Heldensabbat
aufmerksame, streberische, zerfahrene Gesichter. Ein leises, ständiges Murmeln liegt über der Klasse. Die Schüler sind mit den Köpfen in Prag, nicht in Moskau.
»Untergang der Diktatur«, hallt es in Stefans Ohren nach. Das sieht dir ähnlich, denkt er verbissen. Diktatur, damit meinst du den Nationalsozialismus. Und Hitler ist für dich ein Diktator. Und du läßt im Osten ein Reich zugrunde gehen, wo unser Volk heute sein Reich aufbaut.
Dann sieht er Claudia. Seine Gedanken brechen ab. Heute Abend, überlegt er, nach dem HJ-Dienst, du und ich, eng, nahe, heiß, zusammen.
Der Klassenleiter muß sich gewaltsam konzentrieren. Gleich werde ich gerufen, denkt er, und muß mich verantworten wegen eines Unterrichts, wie ich ihn gerade erteile.
Es ist heiß. Weisungsgemäß heizt der Hausmeister. Dazu brennt die Sonne durch die Scheiben.
»Stellen Sie die Heizung ab, Bertram«, sagt Faber zum Nebenmann Hartwigs. »Und dann Fenster und Türe auf!«
Seine Gedanken machen sich heute selbständig.
»Weiter. Napoleon: Rückzug, Konvention von Tauroggen.«
Die Gymnasiastinnen starren ihn an. In ihren Augen liegt nicht nur das Interesse am Unterricht, es glänzt noch etwas anderes mit: schwärmerische, jungmädchenhafte Verehrung für den jungen Lehrer, für den Mann.
Links von Claudia sitzt Susanne, siebzehn Jahre alt, pechschwarz, schreibt täglich Briefe an ihn, Zeilen voller Scheu, voller Kitsch, voller Hoffnung, voller Bangen. Und zerreißt sie dann. Hinter ihr Ingrid, blond, schmal, reif; wen küssen seine Lippen? fragt sie. Ein Mann wie er ist doch nicht allein. Warum bin ich nicht älter, größer, erfahrener? Warum betrachtet er immer nur meine Hefte und nicht meine Augen?
Neben ihr sitzt Erika, deren Haare sich wie ein Fragezeichen des Lebens um das blasse Gesicht winden. Sie macht sich keine Gedanken um den Lehrer. Sie sitzt nur da, und ihre großen, weichen Augen lassen Dr. Faber nicht los. Sie wird rot, wenn er sie aufruft, obwohl sie nichts zu fürchten hat, denn Erika ist eine der Besten in der Klasse. Aber sooft der Lehrer sie ansieht, bekommt sie feuchte Hände.
In diesem Moment übernimmt Studienprofessor Pfeiffer von der benachbarten 6 b den Unterricht. Auch er hat die Türe öffnen lassen. Auch auf seinem Stundenplan steht Geschichte. Seine Stimme klingt knarrig und hell über den Gang.
»Das ist Geschichte!« Der Lehrer schlägt mit der Hand gegen eine Zeitung. »Adolf Hitler macht Geschichte! Klappt eure Bücher zu! Laßt die armselige Schulweisheit fahren! Lest die Zeitung!«
Stefan Hartwig lächelt schadenfroh. Sein Freund Bertram feixt. Die anderen heben die Köpfe zur offenen Türe. Die Mädchen betrachten erschrocken den Ordinarius.
»Wir brauchen diesen Kram nicht!« fährt der Studienprofessor vom Nebenzimmer fort. »Wir machen die Geschichte selbst! Werft eure Erdkundebücher weg! Es gibt keine Erdkunde mehr. Wir treiben Geopohtik!«
Auch Dr. Faber sieht jetzt zur Türe. Sein Gesicht wirkt müde. Eine Sekunde hebt er beide Arme halb hoch, als könnten sie die Worte Pfeiffers fernhalten. »Müller«, sagt er dann leise und bestimmt, »schließen Sie bitte die Türe.«
Der Schüler reagiert beflissen.
Stefan betrachtet den Assessor mit zugekniffenen Augen. Dr. Faber bemerkt es, lächelt verloren. Dann wird sein Gesicht wieder fest, ruhig.
Er interpretiert Geschichte und nicht den ›Völkischen Beobachter‹. Er schildert die Ländergier Napoleons, den Machtwahn des Korsen, die endliche Allianz uneiniger Völker, die ihn schließlich zu Fall bringen.
»Was wurde aus Napoleons Siegen?« fragt Dr. Faber. »Was aus seinen Eroberungen? Und wie verzinste sich das Blut, das der kaiserliche Diktator bedenkenlos forderte?« Jeden einzelnen seiner Schüler scheint der Klassenleiter anzusehen, als er eindringlich, suggestiv fast, feststellt: »Die Geschichte geht über die Schlagzeilen der Tagespresse hinweg. Sie verwandelt Siege in Niederlagen und Niederlagen in Siege.«
Das Pausenzeichen fällt mit seinen Worten zusammen.
Stefan begleitet Claudia nach Hause. Sie tragen ihre Schulmappen unter dem Arm, gehen gemächlich nebeneinander her, betrachten sich von der Seite, lächeln. In den letzten Wochen hat sich für sie viel geändert. Sie wissen, daß sie ineinander verliebt sind. Es ist ein heißes, beiderseitiges Gefühl voller Glück, Verlangen und Entsagen.
In der ersten Tanzstunde begann es. Vor ein paar Tagen. Auf einmal drehte sich der ganze Saal um Claudia. Im Walzer. Im
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