Heldensabbat
Tagsüber verkauft er von seinem Handwagen aus ambulant Käse und Butter. Ein serviler Groschengeschäftsmann, der bis vor kurzem verbittert und auf nachdrücklichen Wunsch seiner resoluten Frau auch noch Juden beliefern mußte.
Nachts aber wächst er über sich und seinen klapprigen Handkarren hinaus. Als SA-Sturmführer schleift er Studienprofessoren, Stadtsekretäre und Regierungsräte, hetzt sie über Stoppelfelder, läßt sie an Barrieren zappeln oder Handgranaten werfen. Und dann folgt unweigerlich der abendlichen Wehrertüchtigung der morgendliche Milchverkauf.
Dr. Faber hat gerade noch Zeit, vor der Standarte nach links einzubiegen. Er ist nicht allein. Er sieht sich die Leute an, die der Fahne den Rücken gekehrt haben: drei Hausfrauen, ein Pensionist, ein Geistlicher, eine Bäuerin, zwei Arbeiter.
»Bis alles in Scherben fällt«, grölt die Kolonne.
Die schwarzuniformierten Männer der SS folgen der SA-Formation, so unmittelbar, als säßen sie – wie bei der Röhm-Affäre – den Braunhemden noch immer im Genick.
Dr. Fabers Hände greifen nach den Ohren.
Der Rentner bemerkt es. »Mir geht's genauso«, sagt er leise.
Dann gehen sie hastig auseinander, der eine nach links, der andere nach rechts. Einen Moment lang bleibt der Germanist auf der unteren Brücke vor der Statue der Kunigunda, der Stadtheiligen, stehen. Sie lächelt ihm zu wie eine Verschwörerin. So hat sie wohl schon gelächelt, als sie sich der Sage nach einem Gottesurteil unterwerfen mußte, um ihre Unschuld zu beweisen.
Dr. Faber erreicht seine Wohnung, er will Schulaufsätze korrigieren, aber er geht in seinem Arbeitszimmer unruhig auf und ab. Vermutlich ist dem Oberstudiendirektor heute der deutsche Einmarsch in die CSSR wichtiger als die Auseinandersetzung mit einem unbotmäßigen Studienassessor. Aber aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Und daß er Assessor bleiben wird, weil nach dem Zwischenfall mit dem alten Bertram seine überfällige Beförderung wiederum ausfallen wird, ist noch das mindeste, was ihm droht.
Im Grunde ist es Hans Faber gleichgültig. Auch wenn er es sich nicht eingesteht, weiß er, daß er eines Tages an seinem Unterricht scheitern wird. Aber er ist unabhängig, braucht für niemanden aufzukommen, und so sorgt er sich mehr um seine Schüler als um seine umwölkte Zukunft; er möchte diese prächtigen Jungen weder dem »Hydro« noch Dr. Pfeiffer überlassen.
Er zögert noch, dann entschließt er sich, seinen Freund Robert Klimm anzurufen, den Narkosearzt im Städtischen Krankenhaus.
»Gedankenübertragung, Hans«, begrüßt ihn der Anästhesist. »Ich wollte dich gerade anläuten. Claus ist für ein paar Stunden von Nürnberg herübergekommen. Ich bring' ihn gleich mit.« Nach einer kurzen Pause fragt der Mediziner: »Alles in Ordnung bei dir?«
»Gar nichts ist in Ordnung«, erwidert der Erzieher. »Deswegen will ich ja mit euch sprechen.«
Offensichtlich haben die beiden Freunde die Bedrängnis ihres Freundes und früheren Studienkollegen mißverstanden. Sie bringen eine Flasche Schnaps mit, und Robert stellt sie mit den Worten auf den Tisch: »Wer Sorgen hat, hat auch Likör. Was ist los, Hans?«
»Ärger«, antwortet der Assessor. »Politischer.« Er berichtet, was vorgefallen ist.
Robert und Claus, Hansens unzertrennliche Gefährten – man hatte sie zu Universitätszeiten nur ›Die drei Musketiere‹ genannt –, begreifen sofort den gefährlichen Fallstrick, an dem Hans hängen geblieben ist. Sie haben es leichter: Wenn Robert seine Patienten zur Operation vorbereitet, stellt er keine politischen Fragen noch Fallen. Claus Benz, Jurist und Syndikus bei einem Versicherungsunternehmen in Nürnberg – seit einem Wehrmachtsunfall zieht er links das verkürzte Bein nach –, sitzt auch in keiner politischen Frontlinie wie ein Erzieher. Die ›Drei Musketiere‹ waren für die HJ zu alt gewesen und für die SA zu gewitzt. Dann hatten sie ohnedies zu Preußens einrücken müssen, Wehrpflichtige des Jahres 1936. Außerdem hatten sie zu jeder Zeit schöne Frauen mehr interessiert als lautstarke Politik.
»Unterschätz diese Halunken nicht«, warnt Robert.
»Was kann ich tun? Soll ich versuchen, bei einer Privatschule unterzukommen?«
»Erst mal einen Schluck trinken«, erwidert Claus und zupft an seinen schütteren Haaren herum. Offensichtlich führt er einen aussichtslosen Kampf gegen eine vorzeitige Kahlheit. »Nur dieser Barras ist schuld«, schweift er vom Thema ab. »Der Stahlhelm.« Aber
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