Heldensabbat
dich lieb«, sagte er und verschwand, als ob er eine Bombe gezündet hätte.
Claudia rief ihm nach. Aber in seinem Glückstaumel stolperte er blindlings in die Nacht. Das Mädchen schluckte. Die Leichtigkeit war auf einmal weg.
So ist das also, dachte sie. Ihre Stirne runzelte sich vor angestrengtem Nachdenken. Habe ich etwas falsch gemacht? Etwas Unrechtes? Ist das erlaubt oder verboten? Geht es den anderen auch so ? Sprechen sie nur nicht darüber?
Damals wußte Claudia eine Antwort auf ihre Fragen so wenig wie heute.
Wieder steht sie vor ihrer Haustüre, wechselt mit Stefan ein paar belanglose Sätze, um noch ein paar Minuten des Zusammenseins herauszuschinden.
»Heute Abend, nach dem HJ-Dienst«, sagt Stefan hastig.
Claudia nickt.
»Servais.« Er gibt ihr die Hand und läuft schnell davon. Sicher ist seine Suppe kalt.
Jeden Tag ißt er sie jetzt kalt.
Dr. Faber wartet den ganzen Nachmittag. Es drängt ihn hinaus in die frische Luft. Aber er geht nicht vom Telefon weg. Noch immer hat sich Oberstudiendirektor Dr. Schütz nicht gemeldet. Er läßt mich zappeln, denkt Dr. Faber. Oder hat er sich schon mit dem Ministerium in Verbindung gesetzt? Oder mit der Partei? Oder mit irgendeiner dieser braunen Organisationen, die so zahlreich und so tödlich sind wie Polypenarme?
Um 18 Uhr hält er es nicht mehr aus, läuft er aus der Wohnung weg in die Stadt, planlos. Aus den Fenstern hängen Fahnen. Einige Schaufenster zeigen zwischen Trikotagen oder Süßwaren Hitlers lorbeerumkränzten Kopf, und etwa in Bauchhöhe des Führers ist, in schwarz-weiß-roter Umfassung, zu lesen: »Deutsches Geschäft.«
Die Radiohändler haben Lautsprecher aufgestellt. Der Äther spuckt Militärmusik, gewürzt mit Meldungen, aus.
Der Einmarsch klappt reibungslos. Braun beherrscht das Straßenbild. Die NS-Organisationen bieten ihre Leute zu einer Demonstration auf. Der Marschtritt hallt verschwommen in den kleinen, winkeligen Straßen. SA marschiert im falschen Tritt. Voraus die Standarte wie ein Schellenbaum, von einem SA-Truppenführer getragen, dahinter, in zehn Meter Abstand, Studienrat Stocker, ein geballtes Nichts im Gesicht. Seine Männer singen laut, falsch und schrill. Der Musiklehrer hört es nicht. Er ist der Repräsentant der Zeit, auch wenn sie falsch tönt.
Passanten bleiben stehen. Ein paar Jahrhunderte Geschichte belächeln schräg von der Seite mit Fachwerkfassaden spöttisch die Kolonnen.
Wieder einmal tritt die SA zum Sturm an, der jeweils in einer Gastwirtschaft endet. Die Männer schwenken den rechten Arm. Die linke Hand liegt flach am Koppelschloss, wo bei vielen die Leibesrundung am größten ist. Auf den Blechverschlüssen über dem Nabel steht: »Deutschland erwache!«
Trotzdem sind viele Gesichter der Marschierenden schläfrig. Sie kommen in Dreierreihe, schlecht ausgerichtet. Unbedarfte Idealisten neben hilflosen Schwächlingen, fanatische Spießer neben schlauen Nutznießern. Ein paar Linkshänder schwenken den falschen Arm. Bei anderen ist die Hand vom Koppelschloss zu weit nach rechts gerutscht. Es sieht aus, als ob sie ihren Blinddarm abtasten würden.
Dr. Faber macht sich klar, daß eine Pauschalverurteilung unfair wäre. Vielen Männern im Braunhemd sieht man an, wie unangenehm ihnen die Uniform ist und wie schwer ihnen das Marschieren fällt. Es gibt so viele Druckmittel, Menschen zu Mitläufern zu machen, und nicht jeder ist so ein harter Brocken wie er selbst – und wer weiß noch, wie lange. Kann man es einem Arbeitslosen verübeln, der jahrelang gestempelt hatte und der für seine fünf oder sechs Kinder keine Zukunft sah, daß er sich von den Arbeitsscheuen einfangen ließ? Gewiß, in Mainbach war das Erwerbslosenproblem nie so brisant gewesen; hier gibt es auch heute noch mehr Kirchtürme als Fabrikschornsteine, aber ganz anders ist die Optik in den Industrierevieren des Ruhrgebiets und Oberschlesiens. Und die Braunen hatten Wort gehalten. Die Unterprivilegierten fanden sofort Arbeit, wurden besser bezahlt als je zuvor, und ihre blassen, hungrigen Kinder konnten sogar auf Staatskosten in die Ferien nach Pommern fahren. Und immer weiter geht es aufwärts, in Deutschland ist keiner mehr arbeitslos. Woher sollte ein Mann, der endlich wieder schaffen darf, wissen, daß er für Rüstung, Krieg und Inflation schuftet und eines Tages ärmer dastehen muß als je zuvor?
In diesem Moment biegt die SA um die Ecke. Sturm III, geführt von Drexler, dem Milchmann. Er wirkt stramm und zufrieden.
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