Heldensabbat
Jahrhunderten zu einer selbstverständlichen Volksgemeinschaft geführt, längst bevor der NS-Staat sie verordnete: An den langen Holztischen sitzen Arm und Reich in bunter Reihe, Handwerksmeister und ihre Gesellen, der Oberlandesgerichtspräsident neben dem Justizschreiber und mitunter in Zivil sogar der Kreisleiter, dem man nachsagt, er sei in erster Linie Mainbacher und in zweiter erst Hitlers Statthalter. Jedenfalls soll der frühere Eisendreher in Bierlaune vor Dutzenden von Zuhörern ausgerufen haben: »Wer die fränkische Bratwurst nicht schätzt und das Mainbacher Bier nicht liebt, kann auch kein echter Nationalsozialist sein.«
Rechtsanwalt Hartwig teilt die Kerwa-Vorliebe seiner Mitbürger und läßt kaum eine aus. Einmal saß er sogar dem Kreisleiter schräg gegenüber, und die beiden winkten einander flüchtig zu. Hier sieht Kriminaloberkommissar Bruckmann seinen Giftweizen blühen. Wochenende für Wochenende sendet er dem Juristen seine Beobachter hinterher, keine abgestempelten Parteileute, V-Männer, ehrenamtliche, wenn auch nicht ehrenwerte Spitzel. Problemlos kommen sie an den Observierten heran. Es ist nicht schwierig, mit dem Anwalt ins Gespräch zu kommen. Hier spricht jeder mit jedem über Gott und die Welt, am wenigsten freilich über Politik, höchstens mehr zum Gaudium. Nicht selten erlaubt sich hier ein linientreuer Nazi einen saftigen Witz gegen seine eigene Partei. Alle lachen, keiner nimmt es ihm übel, im Bierkeller herrscht der »Schaum der freien Rede«, wie auf dem Münchener Oktoberfest oder im Hof bräuhaus. Probleme stören nur das: »Ein Prosit der Gemütlichkeit!«
»Wie geht's Ihnen, Herr Reblein?« fragt Dr. Hartwig den links neben ihm sitzenden Postinspektor.
»Recht gut, Herr Doktor«, erwidert der Mann. »Na ja, meine Frau hat mitunter wieder diese Rheumaanfälle, aber sonst –«
Sie heben beide die Maßkrüge, stoßen an, trinken aus, und der Jurist winkt die Kellnerin herbei, um eine Maß für seinen Tischgenossen auszugeben. Reblein ist ein unauffälliger, subalterner Typ, manchmal ein bißchen wichtigtuerisch, aber was einem an ihm nicht gefällt, kann man sich ja an einem so herrlichen Sonnentag unter schattigen Kastanien mit Ungespundetem wegtrinken. Der Mann leistet sich zur Feier des Tages Gänsebraten.
Die Gegenübersitzenden sehen sich nach ihren Kindern um. In diesem Moment serviert die Kellnerin das leckere, reichliche Viertel eines Martinsvogels und verfolgt, wie der Duft den Rechtsanwalt in Versuchung führt.
»Eine echte deutsche Gans«, sagt Reblein halblaut, »fett wie Göring, braun wie Goebbels und gerupft wie das ganze deutsche Volk.«
Der Anwalt verzieht leicht das Gesicht, es sieht aus, als lächle er nur mit den Augen.
»Na ja«, setzt der Inspektor hinzu, »wir sind doch unter uns. Und Sie haben die Partei doch auch dick, nicht? Sie und ich, wir wissen doch, was wir von dieser Bande zu halten haben.«
»Sie haben zu viel getrunken, Reblein«, rügt ihn der Anwalt. »Und auf einem Bierkeller gibt es keine Politik.«
»Die lassen jetzt sogar die Kruzifixe aus den Schulen entfernen«, behauptet Reblein mit kleinen Augen. »Frevler sind das, Gotteslästerer, Lumpen.«
»Das möchte ich nicht gehört haben«, erwidert der Jurist.
»Na, tun Sie doch nicht so, Herr Doktor, weiß doch, was mit Ihnen los ist. Bei mir brauchen Sie sich doch keine Hemmungen aufzuerlegen wegen dieser – dieser Verbrecher –«
»Zahlen«, ruft der Anwalt, wirft ein Geldstück auf den Tisch. Er nickt dem Agent provocateur zu. Bei ihm kann sich der Spitzel künftig weitere Versuche ersparen.
Die 8 c ist heute unruhig. Sonst wird es immer sofort still, wenn der Ordinarius eintritt und den Arm ausstreckt, als griffe er nach dem Pult, um sich daran den letzten Schritt hinaufzuziehen. Heute gleitet seine Hand ohne Übergang vom Hitlergruß in eine Abwehrbewegung.
»Die kommen heute noch bis Prag«, sagt Stefan Hartwig laut in die plötzliche Stille hinein.
Dr. Faber hört es, lächelt in den Mundwinkeln. »Ja«, beginnt er, wartet, bis es still ist, und fragt: »Und wie weit kam Napoleon in unserer letzten Geschichtsstunde?«
»Bis Moskau«, antwortet der Chor.
»Gut«, entgegnet Dr. Faber. »Also Winterfeldzug. Moskau brennt. Die Flammen stehen über der Holzstadt wie ein Himmelszeichen. Es ist die gespenstische Beleuchtung des Untergangs einer Diktatur.«
Dr. Faber blickt an den Reihen seiner Schüler entlang, sieht in lächelnde, gleichgültige, zerstreute,
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