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Heldensabbat

Heldensabbat

Titel: Heldensabbat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Will Berthold
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Franzosen, die den Weimarer Politikern auch das kleinste Entgegenkommen verweigert und die Deutschen nicht zuletzt dadurch in die Arme der braunen Bewegung getrieben hatten, lassen Prag im Stich. Hitler kann auch den Sudetengau heimholen ins Reich.
    Der Diktator stellt in einer Massenversammlung fest: »Ich habe keine territorialen Ansprüche mehr.« Hinter den Kulissen bemerkt er, verärgert auf Chamberlain anspielend, der ihm den billigen Triumph ermöglichte: »Der Kerl hat mir meinen Einmarsch in Prag verdorben.« Bei der deutschen Bevölkerung geht die Erleichterung in Begeisterung über; wieder einmal hat der Führer unblutig gesiegt, aber viele fürchten auch schon die nächste Runde.
    Friedenskundgebungen in Berlin und Frankfurt, in München und in Mainbach.
    Hier steht eine strahlende Sonne über dem Kessel der Sieben-Hügel-Stadt; Panzer rasseln durch die Straßen, und jetzt, da sie keinen Schaden anrichten werden, winken ihnen die Passanten zu.
    Dr. Faber kann den Lautsprecher abschalten, nicht seine Gedanken. Er packt zerstreut seine Bücher zusammen und geht zur Schule. Auf der Straße stehen die Menschen in Gruppen beieinander, besprechen erregt Hitlers neuesten Schritt. Die einen faseln vom Weitblick des Führers, und die anderen hamstern wahllos Lebensmittel. Von der Altenburg her dröhnen Transportgeschwader, keilförmig geordnet, in der Luft und verschwinden als winzige, silbrige Punkte am östlichen Horizont.
    Dr. Faber geht durch die Türe des schmucklosen Backsteinbaus. Daß die Schulen immer so den Kasernen ähneln müssen, denkt er. Dann stockt der Assessor vor dem Marmormosaik am Gang: Nunquam retrorsum. Niemals zurück!
    Gilt es mir? fragt er sich. Gehe ich heute zum letzten Mal durch diese Türe? Und was kommt dann? Stehe ich heute ein letztes Mal vor meiner Klasse? Ist morgen schon ein anderer an meiner Stelle und hämmert diesen prächtigen Siebzehnjährigen bedenkenlos die Phrasen der Zeit ein?
    Die Schulzimmer sind leer. Der Direktor hat eine Feierstunde angesetzt, wie meistens der ministeriellen Anweisung um eine halbe Stunde voraus.
    Die Aula, der Festsaal der Schule, liegt über der Turnhalle. An den verschnörkelten Wänden prangen in Goldschrift die Namen berühmter Deutscher. Dr. Schütz ließ einige auswechseln, weil jetzt zum Verbleib auf den Ehrenplätzen der Aula neben dem arischen Nachweis noch die politische Unbedenklichkeit gefordert wird. Heinrich Heine wich Theodor Körner, und Mendelssohn kapitulierte vor Strauß. Goethe an der Stirnseite hält sich noch tapfer, rechts flankiert vom renovierten Schiller und zur Linken vom gefährdeten Lessing.
    Auf dem Podium steht ein Pult, das mit einer Flagge hastig ausgelegt wurde. Schlampig hängt das zu weite, grellrote Tuch an den Reißstiften. Die Krallen des Hakenkreuzes verlieren sich an den Kanten wie riesige, plumpe Spinnenfinger.
    Gemessen betritt der Anstaltsleiter das Podium. Auf dem Rockaufschlag von Oberstudiendirektor Dr. Schütz leuchtet das Parteiabzeichen wie das Auge Polyphems – das Einauge des Riesen auf dem Revers eines Zwerges. Denn Dr. Schütz gehört mit 1 Meter 64 Körpergröße zu der von der Bewegung verachteten Kategorie der Schrumpfgermanen.
    »Verehrte Kollegen, liebe Schüler«, beginnt Direktor Dr. Schütz seine Rede, »heute ist ein stolzer Tag in der deutschen Geschichte. Unsere siegreichen Truppen holen das verlorene Ostland zurück. Der Führer hat auf das Großdeutsche Reich wieder einen neuen Baustein gelegt –«
    Er sieht von seinem Blatt auf. Seine Gesichtshaut ist schlaff. Die gelben Pupillen werden von einer Vielzahl roter Äderchen durchzogen. Seine Augen sind halb grün, halb braun, als sollte schon äußerlich ausgedrückt werden, daß der Anstaltsleiter ein politisches Chamäleon ist.
    Die siebenhundert Schüler drängen sich in der Aula. Die unteren Klassen müssen neben den Stuhlreihen stehen. In den Gesichtern der Schüler spiegelt sich je nachdem morgendliche Unlust, schlechtes Gewissen wegen unerledigter Hausaufgaben, hektische Begeisterung oder Freude über die ausgefallene Lateinstunde. Sie sehen auf die Uhr und hoffen, daß der Rex noch lange salbadern wird. Im Hintergrund notiert der Zeichenlehrer eilfertig tuschelnde Gymnasiasten.
    Dir traue ich auch nicht, denkt der Primaner Stefan Hartwig und starrt Dr. Schütz an, du bist nur so laut und so pathetisch, weil du im Grunde ein falscher Hund bist. Wer weiß, was du früher warst – und was du wärst, wenn die Bewegung nicht

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