Heldensabbat
Foxtrott. Im Slowfox. Sie lag in Stefans Armen. Sie fühlte ihr Herz schlagen und seine Hände zittern. Ihr war leicht, unendlich wirbelig, federleicht.
Dann erklärte Tanzlehrer Grenzlein eine neue Figur. Er griff sich eine der knapp siebzehnjährigen Damen heraus. Mit ironisch-galanter Verbeugung entführte er sie ihrem Partner und benutzte sie in der Mitte des Saales auf dem hellgelben, spiegelglatten Parkett als Demonstrationsobjekt.
Stefan gefiel Claudia wie nie zuvor. Zum erstenmal sah sie ihn anders. Er trug weder die verbeulten grauen Schulhosen noch die senffarbene HJ-Uniform nebst umgegürtetem Dolch und obligater Führermiene. Er war jetzt bloß ein hübscher Junge, dem Dunkelblau prächtig stand, auch als Pennäleranzug mit zu engen Nähten und ein wenig glänzenden Ellbogen.
Vor Claudias Augen verwandelte sich der blaue Anzug in einen schwingenden Frack und der Boden der Tanzschule in eine Schloßterrasse, hoch über dem Mittelmeer.
»Paris, du bist die schönste Stadt der Welt«, tönte es aus dem Lautsprecher. Der Schlagerproduktion des Jahres 1938 gelang es, selbst den Charme der Seinestadt in kleine, eckige Marschtritte zu zerlegen.
»Nein, nicht so«, sagte der Tanzlehrer. Mit einer mechanischen Bewegung, als ob er aus einem Fischbottich eine Flunder zöge, griff er sich Stefan und tanzte mit ihm los.
Die anderen fünfzig jungen Menschen kicherten. Es sah so komisch aus, wie Herr Grenzlein mit der breiten Hand Stefan das Kreuz eindrückte, so daß dem Jungen gar nichts anderes übrig blieb, als hingegossen wie eine stocksteife Jungfrau nach dem Wollen des Mannes zu schweben. Und so brach der Tanzlehrer dem Fähnleinführer das hölzerne Rückgrat und verwandelte ihn wieder in das, was er von Natur aus war: ein hochgeschossener, biegsamer Junge, der schön gewachsen war, Flöte spielen sollte und Hirtenknabe sein konnte.
Dann nahm Herr Grenzlein Claudia.
Sie träumte davon, daß Stefan so tanzen konnte. Und so flossen die Bewegungen ineinander über. Das junge, hübsche Mädchen gab sich den Schritten des Tanzlehrers ganz hin.
»Au«, sagte sie später zu Stefan. »Warum drückst du denn so?«
Sie sah, daß seine Augen dunkler wurden.
»Ich mag das nicht«, stieß er hervor.
»Was?«
»Daß du so tanzt.«
»Wie?«
»So, wie mit Herrn Grenzlein.«
Claudia lachte auf. Silbern, lockend, zufrieden.
»Das tut man nicht«, fauchte Stefan.
Claudia lachte weiter.
»Das ist unanständig.«
»Aber Stefan.« Sie berührte sein Knie.
Da war er auf einmal still. Claudias Lippen blieben halb geöffnet. Ihre Zähne schimmerten. So leicht ist das? dachte sie. So schnell kann man einen Jungen willenlos machen? Und sie versuchte es, spielerisch, immer wieder, und sie war selig über ihre Entdeckung.
Dann brachte Stefan sie nach Hause. Das war für ihn der Hauptzweck der Tanzstunde, die er sonst hasste. Es war dunkel. Unter den Straßenlaternen sah er an ihren zarten Füßen die Seidenstrümpfe glänzen, bei jedem Schritt, den sie machte.
Seine Worte von vorhin, sein Zorn über die Art, wie sie mit Grenzlein getanzt hatte, standen jetzt wie Prellböcke auf den Geleisen, über die er sich ihr nähern wollte.
Und Claudia wunderte sich, weil ihr trotz der frischen Luft immer noch so leicht und so schwindelig war wie vorher. Sie ging langsam, sah zu Stefan auf.
Ihre Arme berührten sich beim leichten Pendeln des gleichen Schritts. Ihre Hüften trafen sich manchmal. Und dann fühlte Claudia jeweils einen elektrischen Strahl. Angenehm und doch bedrohlich. Je näher sie ihrer Wohnung kam, desto größer wurde die Spannung.
»Du«, sagte Stefan.
»Ja«, flüsterte Claudia. Sie blieb stehen. Sie sah wieder zu ihm auf. Wie nie zuvor.
Ein Autoscheinwerfer blendete sie. Claudia wandte den Kopf. Der Wagen brummte an ihnen vorbei. Es war wieder still bis auf weitentfernte Schritte, die irgendwo auf das Pflaster hackten.
Sie hörte Stefan atmen. Sein Gesicht konnte sie nicht erkennen. Sie fühlte seine Arme auf ihrem Körper. Sie zitterte.
»Du«, sagte er noch einmal. Sein Kopf stieß hart an ihre Nase. In seinem hilflosen Ungestüm merkte er es nicht.
»Au«, sagte Claudia, spürte die Tränen in den Augen.
Und dann brannten seine Lippen auf ihrem Gesicht, auf ihren Wangen, auf ihrem Hals.
Claudia öffnete ihren Mund, wollte ihn Stefan entgegenheben. Aber es war schon vorbei.
»Gute Nacht«, keuchte er. Dann riß er sich los, lief ein paar Schritte weg, fuhr noch einmal herum. »Du … ich hab'
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