Heldensabbat
Stefan mit sich, weil er die Tür nicht versperrt hat, als ob das an der Situation etwas geändert hätte.
Der Kaiserdom rief zu spät abendlicher Adventsandacht. Rechtsanwalt Dr. Wolf Hartwig betrat ihn durch die Adamspforte, wurde wie immer vom feierlichen Halbdunkel einer zu Stein gewordenen Geschichte überwältigt. Im ersten Moment erkennt er seine schöne Nachbarin nicht. Sie steht unter den Andächtigen im Lichtbogen neben Riemenschneiders Grabmonument der heiligen Kunigunda, die einer frommen Legende nach ihr Netz über Mainbach gespannt haben soll, um die Stadt zu schützen. Dann fängt der Rechtsanwalt Maria Steinbeils Blick auf und erkennt, daß sie ihn sprechen will. Nach dem Gottesdienst wartet er in seinem auf dem Domberg abgestellten Opel Olympia, öffnet seiner Nachbarin den Wagenschlag, um sie – wie schon öfter – mit nach Hause zu nehmen.
»Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen für Ihren Rat danken kann, Doktor«, sagt sie. »Rechtsanwalt Vollhals hat mir heute Nachmittag mitgeteilt, daß für Peter ab Montag der neue Paß bei der Stadtverwaltung bereitliegt. Und ich habe mich so gegen diesen Opportunisten Vollhals gewehrt und –«
»Er wird Ihnen mit einer saftigen Honorarrechnung kommen«, erwidert Hartwig mit hintergründigem Lächeln. »Ich hätte Sie umsonst betreut – aber leider auch vergeblich. Peter weiß nicht, daß Sie nicht zurückkehren werden?« fragt er.
»Nein.«
»Wird er Schwierigkeiten machen?«
»Ich hoffe nicht«, erwidert die inoffizielle Mandantin. »Aber er ist von diesem Staatsjugend-Brimborium mehr beeinflußt worden, als ihm gut tut.«
»Das wird sich im Ausland rasch wieder geben. Hören Sie zu, Frau Steinbeil: Packen Sie so rasch wie möglich. Nehmen Sie nur das Nötigste mit. Sie müssen damit rechnen, daß diese Bande Ihr Vermögen, Ihre Pensionsbezüge zumindest einfriert, wenn nicht überhaupt beschlagnahmt. Kommen Sie durch in der Schweiz? Können Ihnen Ihre Eltern unter die Arme greifen?«
»Es wird schon gehen.«
»Und lassen Sie Peter um Gottes willen das Abitur in Luzern oder sonstwo machen, selbst wenn er ein oder zwei Jahre verlieren sollte.«
Maria Steinbeil nickt.
»Lassen Sie auch ihre Wertpapiere im Banksafe. Man wird Sie sicher an der Grenze kontrollieren.«
»Sie meinen –«
»Ja«, bestätigt der Anwalt. »Es muß aussehen wie ein Vierzehn-Tage-Ausflug. Sofern Ihr Eigentum«, er lächelt melancholisch, »und ich den drohenden Krieg überleben werden, verschaffe ich es Ihnen eines Tages wieder, das garantiere ich Ihnen.«
Sie haben die Dientzenhoferstraße erreicht.
Dr. Hartwig stellt den Motor ab, bleibt noch einen Moment im Wagen sitzen. »Noch etwas, Frau Steinbeil: Keine große Abschiedsrunde von Freunden und Bekannten. Gehen Sie so unauffällig wie möglich.« Er streckt seiner Nachbarin die Hand hin: »Das gilt auch für uns. Alles, alles Gute«, sagt er. »Und passen Sie gut auf den Jungen auf.«
Er sieht Maria Steinbeil betont beiläufig nach, bis ihre schlanke Silhouette von der Dunkelheit verschluckt wird. Der Anwalt spürt, daß er sie nie wieder sehen wird – dazu hat er sie ja selbst überredet –, und auf einmal fällt ihm der Abschied schwer, den er so leicht vollzogen hat.
Stefan begreift, daß er den Absturz überlebt hat, auch wenn seine Hoffnungen zerschellt sind. Sein Blick ist leer, aber er zwingt sich, die Augen Dr. Fabers zu suchen. Claudia zieht die Bettdecke noch höher, als wollte sie darunterkriechen. Der junge Erzieher schüttelt den Kopf, er kämpft mit einem Lächeln, als er näher kommt. Der Raum ist so niedrig, daß er sich dabei bücken muß.
Ohne ein weiteres Wort setzt sich der Leiter des Skiausflugs auf das Fußende von Claudias Bett. Er bemerkt, daß Stefan nicht weiß, wo er seine fahrigen heißen Hände verstecken soll. Das Ende, denkt der Fähnleinführer. Der Hinauswurf, erst aus der Schule und dann wahrscheinlich auch noch aus der Hitlerjugend. Vor seinen Augen kreiseln die Gesichter des Bannführers, des Schuldirektors und seiner Eltern, und er hört sie im Chor sprechen: »Und wir haben immer so große Stücke von dir gehalten.«
Stefan hasst den Mann, der ihn überrumpelt hat wie nie zuvor, und eine wahnwitzige Sekunde lang möchten sich seine Hände selbständig machen und dem Ordinarius an den Hals fahren. Er beherrscht sich. Leicht vornübergebeugt steht er auf, geht mit schwankenden Schritten rückwärts, ohne sich noch einmal umzusehen.
»Bleiben Sie da, Stefan«, fordert
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