Heldenstellung
ahead!
Die Ampel ist grün wie die Hoffnung, trotzdem steige ich auf die Bremse. Satan purzelt vom Rücksitz in den Fußraum. Vor mir auf der Hauptstraße steht ein Mann im strömenden Regen, aufrecht wie ein Baum. Und das am Sonntagabend. Ein entflohener Serienkiller? Verzweifelter Autodieb? Enttäuschter Tatort-Fan? Die reflektierenden Karos seiner Outdoorjacke lassen eher auf einen verirrten Bildungsreisenden schließen. Aber was hat der mitten in der Nacht im Industriegebiet verloren?
Mit aller Kraft stemme ich mich in die Pedale: Aquaplaning, Stotterbremse, die E-Klasse rutscht, schlittert auf den Kerl zu.
Das wird nicht reichen. Er breitet die Arme aus, als wolle er das Ende umarmen. Wie Jesus. Satan kläfft empört. Ich schließe die Augen und beiße die Zähne zusammen: Der Tag hatte so gut angefangen.
Dann steht der Wagen. Eine der ersten Regeln, die ich vorhin im Crashkurs Unternehmensberatung gelesen habe, ist, schlechten Nachrichten professionell lächelnd ins Auge zu blicken. Also öffne ich erst das linke, dann das rechte. Vor mir schieben die Scheibenwischer das Wasser hin und her wie mein Vater das Personal der Global Player. Die Straße hinter der Scheibe ist so leer wie mein Kopf.
Jemand öffnet die Hintertür: Ein völlig durchnässter Mann lässt sich erleichtert auf den Sitz fallen – direkt auf die geklauten Mappen. Der Typ hinkt nicht, blutet und jammert nicht. Er zieht ein Stofftaschentuch heraus und putzt sich ausgiebig die Nase. Dann lächelt er zufrieden. Satan fängt sofort an zu bellen.
»Ruhig!«, befehle ich, aber er gehorcht nicht. Der Mann beugt sich vor, streckt seine Hand aus, um den Mops schnuppern zu lassen. Ich schließe die Augen und warte auf den Schmerzensschrei. Stattdessen höre ich ein Aufatmen. Satan leckt ihm die Hand und macht es sich anschließend wieder im Fußraum gemütlich.
»Sie sind meine Rettung!«, sagt der Mann so erleichtert, als wäre er gerade den Taliban entkommen, und zieht die Tür zu. Er stutzt, holt entschuldigend die nunmehr nassen und völlig zerknitterten Unterlagen unter seinem Hintern hervor, wirft einen Blick darauf und reicht sie mir nach vorn. Na super.
»Seit einer halben Stunde laufe ich die Straße entlang. Es ist ein Zeichen, dass Sie angehalten haben.«
»Na ja, das Zeichen kam eher von der Ampel«, entgegne ich. »Und es war grün.«
»Sehen Sie«, sagt er ruhig und setzt seine Kapuze ab: Ein roter, schon zu lang gewordener Bürstenschnitt kommt zum Vorschein, eine John-Lennon-Brille und darunter ein entrücktes Grinsen. Zum ersten Mal in meinem Leben wünsche ich, jemand würde die Kapuze seiner Multifunktionsjacke wieder aufsetzen, weil es einfach besser aussieht. Jetzt nimmt der Kerl die Brille ab, öffnet seine Jacke und wischt die Gläser mit dem Stofftaschentuch von eben trocken.
»Geht es Ihnen gut?«, frage ich.
»Mühlenstraße 23«, antwortet er freundlich.
Offenbar halluziniert er.
»Das liegt gegenüber vom Hotel Deutscher Hof«, erklärt der Mann.
Ich schüttle den Kopf. »Das hier ist kein Taxi.«
Er stutzt, sieht sich im Wagen um, lässt den Blick über die Ebenholzarmatur gleiten, auf der Kleberresten zufolge bis vor Kurzem offenbar noch die Zulassung des Vorbesitzers haftete, und schaut mich an.
»Sie haben mir die Tür zu sich geöffnet«, sagt er. »Jetzt müssen Sie mich auch mitnehmen. Ist doch egal, ob das hier ein Taxi ist oder nicht. Lassen Sie mich einfach an irgendeiner U-Bahn-Station raus. Sie würden dem großen Unternehmen Menschheit, für das wir alle an uns arbeiten, einen Gefallen tun.«
Das große Unternehmen Menschheit? »Mit denen habe ich keinen Vertrag«, entgegne ich. Na ja, wie ein Wahnsinniger sieht er nicht aus. Eher wie ein Studienrat. »Also gut, ich fahre Sie in die Königstraße, aber ehrlich gesagt brauche ich gerade ein wenig Ruhe.«
»In der Ruhe liegt die Kraft«, entgegnet mein Fahrgast, und ich muss gar nicht in den Rückspiegel schauen, um zu merken, dass sein Lächeln noch etwas breiter wird. Eine Minute später sagt er: »Wahrscheinlich wollten Sie gerade Feierabend machen, oder?«
»Nein, ich habe nie Feierabend. Ich bin Unternehmensberater.« Keine Ahnung, warum ich das erzähle. Vielleicht, weil ich die vergangenen acht Stunden versucht habe, die Mappen auswendig zu lernen.
Er mustert mich interessiert. »Sie sehen nicht aus wie ein Unternehmensberater. Eher wie einer, der Taxi fährt, obwohl er sich zu Höherem berufen fühlt.«
»Und Sie sehen nicht aus
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