Heldenwinter
ein Gitter davor«, sagte Namakan vorsichtig. »Was willst du dagegen tun? Es ausreißen?«
»Es lässt sich anheben.« Dalarr unterstützte seine Erläuterung durch eine passende Geste. »Von innen. Mit einer Kurbel, ein kleines Stückchen weiter drinnen. Für den Fall, dass die Öffnung von zu großem Treibgut verstopft ist. Einer Leiche oder einem Tierkadaver.«
»Woher weißt du das alles?«, fragte Kjell.
»Das ist nicht mein erster unangekündigter Besuch in dieser Stadt. Denk daran, wie alt ich bin.«
»Das ist ja alles schön und gut, Meister.« Namakan hatte die Hoffnung noch nicht aufgegeben, dass er einem Bad in der üblen Suppe noch entgehen konnte. »Aber die Kurbel ist da drin. Und davor ist und bleibt das Gitter. Da passt doch keiner von uns durch. Nicht einmal ich.«
»Du bist aber nicht immer der Kleinste von uns«, sagte Dalarr lächelnd. »Nur die Hälfte der Zeit.«
Kjell nickte wissend, und Namakan ahnte, welchen Plan sein Meister ausgeheckt hatte, um durch die Mauern von Silvretsodra zu gehen.
Sie tauschten die Reste eines Hasen, den Dalarr am Vorabend mit Tschumilals Bogen geschossen hatte, gegen die Plane vom Wagen einer Flüchtlingsfamilie ein. Zunächst kam es Namakan wie ein gerechter Handel vor, doch auf dem Rückweg zu der Öffnung mit dem Gitter setzte ein kalter Nieselregen ein. Da fragte er sich, ob ein voller Magen wirklich besser war, als keinerlei Unterschlupf vor den Elementen mehr zu haben. Er tröstete sich mit der Einsicht, dass die Familie genauso gut unter statt in ihrem Wagen schlafen konnte.
Namakan selbst sollte die Nacht kaum bequemer verbringen. Während Tschumilal mit Kjell aus der Zeltstadt verschwand, um über seine Verwandlung zu wachen, baute Dalarr aus der Plane, deren Außenseite mit Wachs behandelt war, Ammornas Krallenstab und Blotuwakar einen einfachen Unterstand. Die Wanderer drängten sich unter dem Dach aneinander und warteten darauf, dass der Regen aufhörte.
Als es so weit war, teilte Dalarr die Plane mit seinem Kurzschwert in sieben Stücke. Er musste nicht viel erklären. Er legte seinen Rucksack, seine Rüstung und seine Waffen ab und schlug sie sorgsam in eines der Planenstücke ein.
Die anderen folgten seinem Beispiel. Eisarn summte eine beschwingte Melodie – wahrscheinlich weil es unter die Erde ging. Ammorna übernahm derweil die angestammte Rolle des Zwergs, was das Jammern und Klagen anbelangte. Morritbi und Namakan halfen einander, und Tschumilal ließ es sich nicht nehmen, Kjells Bündel zu schnüren, der dabei aufgeregt fiepend auf ihrer Schulter hockte.
Die Elfentochter ächzte, als sie sich das große Bündel auf den Kopf packte und es mit beiden Händen stützte.
»Na, hab ich dir nicht gesagt, dass dir deine Tasche vor lauter Steinen noch zu schwer werden wird?« Namakan grinste und erhielt eine gezischte Verwünschung in der Sprache der Kinder des Dunstes als Entgegnung.
Dann gab Dalarr das Zeichen zum Aufbruch. Leise pirschten sie sich durch das Lager, und in Namakans Aufregung mischte sich ein wenig Traurigkeit: Für jeden Flüchtling, den er schnarchen hörte, gab es auch einen, der im Schlaf wimmerte. Viele waren auch schon – oder immer noch? – wach, aber sie schenkten den Wanderern kaum Beachtung, nur leere Blicke aus regungslosen Mienen. Sie sehen aus wie tot. Lebende Tote. Fast schon wie die, die am Grund der Grotte umgehen, in der der Plagenvater liegt.
Bei ihrer Ankunft an dem Fluss aus Abwässern nahm ein kleines Mädchen in einem weißen Kleid vor ihnen Reißaus. Das Kind machte keinen Laut, und wenn Ammorna nicht »Das arme Ding!« gewispert hätte, hätte Namakan vielleicht geglaubt, ein Gespenst zu sehen.
Der Gestank war nach wie vor kaum zu ertragen. Sie näherten sich der Öffnung in der Mauer von der Seite. Dalarr hatte ihnen vorhin unter der Plane versprochen, dass er den Weg durch die Abwässer so kurz wie möglich halten würde, und er hielt sein Versprechen. Jeder Schritt, den ich nicht durch diesen ekligen Sumpf mache, ist ein Geschenk der Untrennbaren.
Tschumilal kniete sich hin, und Kjell hüpfte von ihrer Schulter auf den Boden. »Es ist nur mein Körper, der sich verwandelt, nicht mein Geist«, hatte Kjell gegenüber Morritbi und Namakan einige Male beteuert, wenn sie auf ihrer Reise über seinen Fluch gesprochen hatten. Namakan betete darum, dass dem auch wirklich so war.
Die Zielstrebigkeit, mit der Kjell vorantrippelte und sich beherzt in die abstoßenden Fluten stürzte, strafte Namakans
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