Heldenwinter
Tristborns in die Welt hinaus wirkte: Lange bevor die Silhouette Silvretsodras sich am Horizont abzuzeichnen begann, verzweigte sich der Strom erneut in ein vielstrangiges Gewirr aus Seitenarmen und Nebenflüssen.
Die profanere Erklärung für diese Verästelung war der Veränderung in der Landschaft links und rechts des Ufers zu entnehmen: In der Kernmark wurden die flachen Auen von steileren Böschungen abgelöst. Um Swemmanger herum war das breite Tal des Silvrets, das er in unzähligen Sommern in die Erde geschliffen hatte, noch eben wie ein Brett gewesen. Hier nun wellten sich in ihm langgestreckte Hügel, wie auf einem Pergament, das zu lange an einem feuchten Ort aufbewahrt worden war.
Wenn ihr Kahn das einzige Boot auf dem Fluss gewesen wäre, hätten die Wanderer womöglich irgendwann eine falsche Abzweigung genommen und sich statt in Silvretsodra in einem mückenverseuchten, toten Seitenarm wiedergefunden. Glücklicherweise brauchten sie nur dem Schwarm anderer Schiffe zu folgen, um die Reichshauptstadt anzusteuern. Stolze Segler mit hohen Masten, von denen ihnen der eine oder andere Ausguck freundlich zuwinkte; schnittige Ruderer, auf denen stämmige Taktgeber auf die Pauken eindroschen; kleine Staker wie ihrer, die von den Bugwellen ihrer großen Verwandten durchgeschüttelt wurden. Sie alle waren in beachtlicher Zahl vertreten, und sie alle transportierten Lasten, die dazu bestimmt waren, auf dem Markt von Silvretsodra Abnehmer zu finden – Moosbeeren und andere Erntefrüchte, Stoffballen, Käfige mit gackerndem, schnarrendem und gurrendem Geflügel, Stapel mit versiegelten Kisten, die die prunkvollen Wappen von Gewürzhändlern trugen …
Als Namakan schließlich nach einer letzten, weiten Schleife Silvretsodra in seiner ganzen atemberaubenden Erhabenheit vor sich sah, kam ihm ein düsterer Gedanke. Eine Zecke! Die ganze Stadt ist eine riesige Zecke, die dem Land das Blut aussaugt, und der Hügel, auf dem sie gebaut ist, ist ihr aufgeblähter Leib.
Als manifestierte sich in dieser einen Metropole die gesamte Ordnung, für die Arvid stand, schwand die Pracht der Stadt je weiter man den Blick nach unten zum Fuß des Hügels senkte. Hoch droben strahlten die Türme und Dächer des Palasts, glänzendweiß und wie aus Träumen von Macht und Herrlichkeit gesponnen. Dort gingen all die, die angeblich von edelstem Blut waren, ihrem Tagwerk nach – spannen Ränke, feierten Feste und bestimmten im Rausch aus Wein und Rauchkraut über das Los ihrer Untertanen.
Darunter war der Hügel zu Ringen aus Terrassen abgetragen, auf denen die reichsten Bürgerfamilien ihre Stammsitze errichtet hatten. Obwohl einige dieser weitläufigen Anwesen sicherlich den Bewohnern ganzer Dörfer auf den Almen Platz geboten hätten, vermochten sie der Imposanz des Palasts nichts entgegenzusetzen. Ihre Türme nahmen sich neben denen von Arvids Heim wie Grashalme neben Baumstämmen aus.
Eine steile Mauer auf einer Höhe von ungefähr zwei Dritteln des Hügels, die Krone gezahnt wie ein Sägeblatt, schied die, die herrschten und von goldenen Tellern speisten, von denen, über die geherrscht wurde und die fressen mussten, was vom Tisch ihrer Gebieter für sie herabfiel.
Es war ein Meer aus Häusern, das gegen diesen Wall brandete. Über die Generationen hinweg waren wahre Menschenmassen zum Mittelpunkt der Macht des Reichs geströmt. Sämtliche Bäume, die einmal im Umkreis von fünf Tagesmärschen um die Stadt herum gestanden haben mochten, schienen gefällt worden zu sein, um sie in Behausungen für die weniger wohlhabenden Bürger Silvretsodras zu verwandeln. Namakan erschauerte bei diesem Anblick wegen eines Einfalls, der nicht weniger grausam als die Einflüsterungen des Rufs der Ketten war. Schau sich das einer an! Sie haben freiwillig einen Scheiterhaufen aufgeschichtet, für sich und für ihre nichtsnutzigen Gebieter …
Und es machte wahrlich den Eindruck, als könnte Silvretsodra nur vergehen, wenn der Funke der Zerstörung in seinem Inneren entfacht wurde, denn von außen wirkte es unantastbar. Die Stadtmauer, die den Ort umspannte, war ganz anders als die in Swemmanger. Ihre Zinnen kragten über, als hätten die Steinmetze versucht, den steilsten Überhang an den Felshängen der Almen nachzuahmen. Alle fünfzig Schritte erhoben sich wuchtige Wachtürme, zwischen denen mit Piken bewaffnete Soldaten patrouillierten. Vor der Mauer war im ansteigenden Gelände ein hundert Schritt breiter Graben ausgehoben, gefüllt mit
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