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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Brücken ohne Geländer, auf denen Namakan versucht war, sie kriechend oder rittlings zu überqueren. Tiefer und tiefer …
    Es mochte am unablässigen Glucken und Glitschen, am Spritzen und Platschen liegen, das sie in diesem Irrgarten umfing, doch langsam weitete sich ein Gefühl in Namakan zu zaghafter Gewissheit aus. Wir sind hier nicht allein! Wir werden beobachtet!
    Mehrfach glaubte er neben sich, auf dem Steg an der anderen Seite der Tunnelwand oder in den Abwässern selbst, eine huschende Bewegung wahrzunehmen, doch wenn er genauer hinsah, war nichts zu sehen. Floh da womöglich irgendetwas oder gar irgendjemand vor dem Leuchten von Ammornas Stab?
    Nachdem er auf einer besonders schmalen Brücke um ein Haar ausgeglitten wäre, weil er vor lauter Spähen nach versteckten Beobachtern zu wenig darauf achtete, wohin er seine Schritte lenkte, hielt er es nicht mehr aus. »Kann es sein, dass es hier Geister gibt?«, wisperte er.
    »Keine, von denen du eine nähere Beschreibung haben willst, glaub mir.« Morritbi dämpfte ihre Stimme nicht, was Namakans Beklemmung nur noch verschlimmerte. »Hier leben nur Geister, die sich im Dreck wohlfühlen. Keine, vor denen wir uns fürchten müssen. Sie tun uns nichts. Sie würden uns nie etwas tun.«
    »Wieso?«, raunte Namakan zweifelnd.
    »Weil wir zu denen gehören, die dafür sorgen, dass ihre Art erhalten bleibt«, sagte Morritbi im Brustton der Überzeugung. »Oder fallen dir etwa Blüten und süße Früchte aus dem Hintern, wenn du dich erleichterst?«
    »Das hätte er wohl gern«, merkte Dalarr von vorn an. »Als jemand, der mehr als einmal nach ihm auf dem gleichen Abort gewesen ist, kann ich nur sagen, dass …«
    »Meister!«, flehte Namakan.
    »Was für eine Pottsau!«, meckerte Ammorna.
    »Dalarr …«, kam es gedehnt in der tiefen Stimme Eisarns von weiter hinten.
    »Was gibt’s?«, wollte Dalarr wissen. »Fängst du auch an Geister zu sehen?«
    »Nein. Ich mache mir so meine Gedanken über etwas, das ich nicht sehe.« Eisarn klang aufrichtig besorgt. »Die Ratten fehlen. Hier müsste es doch Ratten geben. Kein Stollen und kein Tunnel, der so viel Fresschen für sie zu bieten hat, bleibt ohne Ratten.«
    »Dridd!«, zischte Dalarr.
    Dann hörte Namakan irgendwo vor ihnen aus der Dunkelheit ein leises Schaben und einen grellen Pfiff, und im nächsten Augenblick löste sich das Rätsel der verschwundenen Nager.

29
    Der Aufrechte folgt der Einladung seines Feindes, sei es nun zum Freundschaftsschluss oder zum Kampf.
    Aus den Lehren des Alten Geschlechts
    Aus einem Seitenschacht am Rand der von Ammornas Stab geschaffenen Lichtinsel huschte eine geduckte Gestalt auf den Steg. Ihr weiter Überwurf war aus grauen und braunen Fellfetzen zusammengeflickt. Um ihren Hals baumelte eine Kette aus Rattenschwänzen. Dort, wo ihre Haut nicht dreckverkrustet war, war sie bleich wie der Bauch einer Unke. Das verfilzte, dunkle Haar, das ihr ins Gesicht hing, machte es schwer, ihr Geschlecht zu erkennen. Ihre Hände jedoch, die einen spitzen Stock auf Dalarrs Brust gerichtet hielten, hatten die schmalen Handgelenke und dünnen Finger einer jungen Frau.
    Sie ist kein Geist!, bändigte Namakan den wilden Schrecken, der ihn befiel. Sie ist nur ein Mädchen.
    »Wir suchen keinen Streit«, sagte Dalarr in beschwörendem Tonfall. »Lass uns passieren, ja?«
    Das Mädchen senkte seinen primitiven Speer ein Stück. Es legte den Kopf in den Nacken, schob die Schneidezähne über ihre Oberlippe und stieß eine Folge hoher Pfiffe aus.
    Die Brühe im Kanal spritzte auf.
    Das Licht wirbelte im Tunnel umher, als Ammorna ihren Stab zur Seite riss und auf den Mann richtete, der aus dem Wasser aufstand. Auch er hatte langes, zottiges Haar, und auch er trug einen Überwurf aus Rattenfell, doch seiner war zusätzlich mit Aberdutzenden winziger Nagerschädel behängt. Er hatte breitere Schultern als Eisarn, und in jeder seiner Pranken hielt er ein hässliches, schartiges Messer. Aus seinem Mund ragte ein blassgelbes Rohr, das offensichtlich aus einem Knochen gefertigt war – ein Knochen, der viel zu lang und dick war, als dass er von einer Ratte hätte stammen können.
    »Was wollt ihr von uns?«, fragte Dalarr, und Namakan bewunderte seinen Meister dafür, wie fest seine Stimme klang. »Falls wir eine Grenze überschritten haben, die wir nicht hätten überschreiten sollen, biete ich euch meine ehrliche Entschuldigung.«
    Der Mann spie das Rohr aus. Anstatt im Wasser zu landen, schlug es ihm

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