Heldenwinter
dichtgesetzten, spitzen Pfosten aus Stahl, die mögliche Angreifer daran hinderten, Sturmleitern und anderes Belagerungsgerät sinnvoll einzusetzen. Wer zu den gewaltigen Toren wollte – hoch genug, dass selbst Götter hier hätten Einzug halten können –, musste über eine Zugbrücke schreiten, auf der drei Fuhrwerke nebeneinander fahren konnten. Namakan konnte nur Mutmaßungen anstellen, wie schwer die Gewichte an den Ketten sein mussten, die diese Brücke im Ernstfall hoben, um das Maul Silvretsodras zu verschließen.
Und irgendwo weit, weit in der verwaschenen Ferne stach die Felssäule, die man die Nadel nannte, in den Himmel, umkreist von den Schemen der gigantischen Raubvögel, die auf ihr nisteten. Sie hätten Geier sein können, die darauf warteten, dass ihre Beute verendete, denn vor den Mauern der Stadt kampierten Abertausende weitere Menschen in Zelten.
Nachdem die Wanderer auf ihrem Boot so nahe an die Stadt herangekommen waren, dass Namakan sie hören konnte – ein höllischer Lärm aus Stimmen, Hufschlägen, Musikfetzen, Hämmern und Klopfen –, stauten sich die Schiffsschwärme. Als Dalarr den Kahn ans Ufer lenkte und die Wanderer die Böschung hinaufgeklettert waren, erkannten sie auch, warum: Der Hafen Silvretsodras war gesperrt.
Die Piere, die hier in den Fluss hineinragten, waren aus Stein gemauert, nicht aus Holz gebaut wie in Swemmanger. Zwei besonders lange Piere, die Enden aufeinander zugekrümmt wie die Backen einer Zange, bildeten eine Klammer um das eigentliche Hafenbecken. Zwischen ihnen war ein Netz gespannt, das aus metallenen Fäden geflochten und zur Außenseite hin mit abschreckenden Widerhaken versehen war. Das Netz war an zwei großen, bauchigen Rundtürmen auf den gekrümmten Pieren befestigt. Aus dem Fundament beider Türme wuchsen knapp oberhalb der Wasseroberfläche eiserne Falkenköpfe, deren Schnäbel weit aufgerissen waren.
»Flikka mek!«, lautete Dalarrs Kommentar.
»Wozu sind die Falkenköpfe da, Meister?«
»Die Türme sind voller Öl«, sagte Dalarr. »Wenn die Stadt vom Fluss her angegriffen werden sollte, lassen es die Verteidiger ab und stecken die ganze Soße in Brand.« Er strich sich über den Bart. »Was mir mehr zu denken gibt, ist diese Kette da. Warum lässt Arvid den Hafen sperren? Die Pferdestämme reiten ja nicht auf Fischen.«
»Sie soll nicht die Barbaren abhalten«, meinte Kjell verächtlich. »Der König schützt sich vor seinem eigenen Volk.«
Die Behauptung des Grafen ohne Land wurde bestätigt, als die Wanderer zu Fuß in die Zeltstadt vor den Toren Silvretsodras vorstießen. Man brauchte kein weitgereister Gelehrter zu sein, um zu erkennen, worum es sich bei den Menschen handelte, die hier hausten: Es waren Flüchtlinge aus dem Osten. Ganze Familien hatten aus Furcht davor, die Barbaren könnten über die Drachenschuppen kommen, ihr gesamtes Hab und Gut in Planwagen gepackt und waren in einem langen Zug aus der Büffelsteppe aufgebrochen. Sie hatten sich gewiss Besseres erhofft, als vor der Reichshauptstadt zu stranden – ohne festes Dach über dem Kopf, mit dem nahen Fluss als Abort, die Ochsen, die die Wagen gezogen hatten, längst geschlachtet und gegessen.
Ausgezehrte, schmutzige Gesichter erwarteten die Wanderer, und Augen, in denen jede Hoffnung blind geworden war. Die Leute saßen um Feuerstellen herum, für die die Besitztümer von den Ladeflächen als Brennmaterial herhalten mussten: Schemel und Hocker, Schaukelstühle, kleine Kommoden, Wiegen, Bettzeug, Bücher und Schriftrollen, Puppen und Holzsoldaten …
Wie bereits auf dem Markt in Swemmanger war es Dalarr, der von den Flüchtlingen angesprochen wurde, als die Wanderer an ihnen vorüberschritten. Doch anders als bei den Moosbeerenhändlern nahm sich Namakans Meister hier die Zeit, auf die Belange der Menschen einzugehen, die sich an ihn wandten.
Aus einem Dutzend Münder hörten die Wanderer die gleiche Geschichte. Von dem schweren Herzens unternommenen, tränenreichen Abschied von der Heimat. Von der beschwerlichen Reise durch die Steppe. Von den Gräbern, die für die Alten und Schwachen ausgehoben werden mussten, für die sich die Entbehrungen als zu hart erwiesen. Und von der bitteren Enttäuschung am Ziel keine Erlösung, sondern nur noch schlimmeres Elend zu erfahren.
»Manchmal«, beichtete ihnen eine Frau, die die rote Hand Rovils als Hautzeichen auf der Stirn trug, »manchmal geht einer der hohen Herren vom Gipfel des Hügels durch unsere Reihen. Er nimmt
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