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Heldenwinter

Heldenwinter

Titel: Heldenwinter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jonas Wolf
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Bedenken Lügen. Tapfer schwamm Kjell los, die Schnauze hoch aus dem Wasser gereckt. Die Dunkelheit sorgte dafür, dass Namakan die Ratte aus den Augen verlor, noch ehe er erkennen konnte, ob sie das Gitter passiert hatte.
    »Er schafft das schon«, munterte Morritbi Tschumilal auf, die den Blick einfach nicht von der Brühe abwenden wollte.
    »Der Junge hat richtig große Steine im Beutel«, pflichtete Eisarn der Hexe bei.
    »Und einige von uns haben sie sogar schon leibhaftig gesehen«, witzelte Dalarr.
    Als die ersten Strahlen der aufgehenden Sonne den Tag wachküssten, hallten Kjells Schreie aus der Öffnung.
    Endlich!, dachte Namakan und schämte sich sofort dafür.
    Die Schreie riefen niemanden herbei, wie Namakan insgeheim befürchtet hatte. Weder Soldaten auf den Zinnen noch Flüchtlinge aus dem Lager. Sie sind alle taub für Schreie geworden. Sie bedeuten ihnen nichts mehr. Sie haben zu viele gehört.
    »Kjell?«, rief Tschumilal in die stinkende Finsternis.
    »Mir geht es gut«, kam eine gekeuchte Antwort. Nasse Schritte tappten. »Da ist die Kurbel.«
    Es quietschte aus der Öffnung, und das Gitter zitterte erst und begann sich dann zu heben.
    »Na dann.« Dalarr stieg in die Abwässer wie in einen klaren Bergsee, und auch Eisarn zögerte nicht, obwohl ihm das Wasser gleich bis ans Kinn schwappte.
    Namakans Beine wurden wackliger als ein Kartenhaus, das ein Besoffener baute.
    »Seht ihr«, sagte Dalarr zufrieden. »Hier ist gleich ein Steg. Es ist nicht weit.«
    Namakan hielt instinktiv den Atem an und machte den Schritt, für den er in seinem Leben bislang die meiste Überwindung aufwenden musste. Es half Namakan nicht gegen seinen haarsträubenden Ekel, dass die Abwässer, die ihm an die Brust strömten, wärmer als die Nachtluft waren. Bittere Galle kroch ihm den Hals hinauf, als er etwas Langes, Weiches an der Innenseite seines Oberschenkels vorbeigleiten spürte. Ich verbrenne meine Kleider, wenn das vorbei ist!
    Das Furchtbarste war nicht, wie seine Kleider an ihm klebten. Nicht, wie er kaum die Hand vor Augen sah. Und auch nicht, dass ihm die Stiefel vollliefen. Das Furchtbarste war, wie glatt und rutschig der Boden war und dass er die Arme wegen des Gepäcks, das er auf dem Kopf balancierte, nicht freihatte. Wenn ich jetzt ausrutsche, gehe ich unter. Ich gehe in dieser Scheiße unter.
    Es stellte sich heraus, dass er nur zehn Schritte gehen musste, bis er den gemauerten Steg an der Seitenwand des Tunnels sah. Er warf den Gepäckballen darauf ab und zog sich hoch. Die Steine waren schmierig und kalt, doch das störte ihn nicht. Was ihn eher störte, war der Umstand, dass der Steg nicht viel breiter als ein gewöhnlicher Dachbalken war. Die Gefahr, auszugleiten und ganz in den Abwässern unterzutauchen, war noch nicht gebannt.
    Einer nach dem anderen ging den abscheulichen Weg, Ammorna ganz zum Schluss und erst nach einigem Zureden, mit dem man auch einen Esel durch eine Flammenwand getrieben hätte.
    Die Kroka-Dienerin brachte etwas mit sich, wofür ihr Namakan ungemein dankbar war: Licht. Sie murmelte ein Gebet an die Gefiederte Hüterin des Wissens, und das Leuchten ihres Krallenstabs verscheuchte die Finsternis. So kam Namakan in den zweifelhaften Genuss, Tschumilal den splitternackten Kjell zur Begrüßung küssen zu sehen. Während der Graf ohne Land sich danach Hemd und Hose aus dem Bündel holte, das die Elfentochter für ihn getragen hatte, hockte sich Namakan auf den Steg und schaffte es unter gewagten Verrenkungen, seine Stiefel auszuziehen und sie auszuschütten.
    Kaum hatte er sie wieder an den Füßen – der Pelz darin widerlich vollgesogen –, nahm Dalarr sein Bündel auf und setzte sich an die Spitze ihres Zuges. Nach etwa fünfzehn Schritten ging er an einem nach oben führenden Schacht vorbei, ohne diesen auch nur eines Blickes zu würdigen.
    Namakan hingegen schaute sehnsuchtsvoll auf die ins Mauerwerk eingelassenen eisernen Sprossen, die den Aufstieg in reinere Luft versprachen. »Meister«, sagte er. »Hier ist ein Schacht!«
    »Geh weiter!«, knurrte Dalarr. »Ich will nicht im Hinterhof einer Garnison der Stadtwache landen.«
    Und so zogen die Wanderer tiefer in die Eingeweide Silvretsodras hinein. Vorbei an den ersten Löchern in der Tunneldecke, die den Strom aus Unrat speisten. Tiefer und tiefer. Vorbei an Abzweigungen und Kreuzungen, aus denen bei manchen noch ein grässlicherer Hauch wehte als der, der ihnen bislang entgegengeschlagen war. Tiefer und tiefer. Über

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