Heldenzorn: Roman (German Edition)
haben beide mein Blut getrunken. Blut, das man mir mit einer hohlen Nadel aus dem Herzen gezogen hat. Wenn es aufhört zu schlagen, zerspringen die Ringe.« Unvermittelt schlug er Teriasch mit der flachen Hand in den Nacken. Teriasch sprang erschrocken einen Schritt nach vorn und wirbelte dann zu Silicis herum.
»Klatsch.« Silicis grinste. »Wünsch mir besser ein langes Leben und dass sich meine Galle bald wieder beruhigt.«
Hätte Teriasch seine Keule noch gehabt, wäre er der Versuchung vielleicht erlegen. Womöglich hätte er Silicis an Ort und Stelle erschlagen, trotz der Aussicht auf einen grausigen Tod, um erhobenen Hauptes zu seinen Ahnen zu gehen. So jedoch ballte er nur die Fäuste und knurrte: »Und wie wird man frei?«
Silicis stutzte, dann lachte er auf. »Frei?«
»Einer der Soldaten, die mich aus der Steppe geholt haben, hat gesagt, sein Vater wäre auch Sklave gewesen, bis sein Besitzer ihm die Freiheit zurückgegeben hat.« Teriasch zeigte auf die Phiolen. »Wie geht das, wenn die Flasche nie zerbrechen darf? Wie kann man dann richtig frei sein und nicht doch nur ein Sklave, dessen Herr aus Glas ist?«
»Oh.« Silicis nickte anerkennend. »Du bist wirklich so schlau, wie Varia dich angepriesen hat, hm?« Er lachte wieder. »Natürlich kann man frei sein, wenn man es sich verdient. Dann nimmt man die Flasche und wirft sie ins Feuer. Sobald das Wachs schmilzt und dein Blut zusammen mit dem Mukus verdampft, fällt das Kollare von dir ab. Aber mach dir nicht zu viele Hoffnungen, Häuptling. Ich habe noch Großes mit dir vor.«
Feuer … Feuer macht mich frei. Die Hoffnung, die in ihm keimte, brachte Teriasch zum Lächeln – die Hoffnung und ein Einfall, wie er Silicis das Grinsen aus dem Gesicht wischen konnte. »Hast du keine Angst davor, dass jemand dieses Haus in Brand stecken könnte? Und dass all deine Sklaven dann auf einen Schlag frei sind?«
»Nein.« Silicis grinste unvermindert weiter. »Schau dich nur gut in dieser Kammer um. Siehst du darin irgendetwas, das brennen könnte?«
»Nein, tue ich nicht.« Seinen nächsten Gedanken behielt Teriasch ganz für sich, doch er legte die Hand an sein Kollare und lächelte.
9
Wir können uns glücklich schätzen, dass die Drachen untereinander stets zur Zwietracht neigten. Die Geschichte der Welt hätte einen anderen Verlauf genommen, wenn die Schreckensechsen ihre Zwiste je begraben hätten – dann wüsste ein jeder von uns, was es heißt, der Sklave eines wankelmütigen Herrn zu sein.
Aus der ersten Lektion für neue Schüler der Akademia Fabula
»Wer bist du?« Die Stimme, die zu Teriasch sprach, war wie das rauschende Flüstern des Steppenwinds.
Teriasch antwortete ihr nicht sofort, da er erst die Antwort auf eine andere Frage finden wollte: Wo bin ich?
Er stand auf einem zerklüfteten Felsen, der so gewaltig war, dass er zu begreifen glaubte, wie sich eine Ameise fühlen musste, wenn sie ganz nach oben auf die Spitze ihres heimatlichen Haufens geklettert war und die Blicke schweifen ließ. Er meinte, die ganze Welt auf einmal um sich herum ausgebreitet zu sehen. Aus der unvorstellbaren Höhe betrachtet, in der er sich befand, wirkte sie jedoch wie eine besonders lebensechte Karte, die in einen großen Teppich gewebt war. Breite Ströme waren zu schmalen Rinnsalen geschrumpft, tiefe Täler waren flache Furchen, Meere nur Pfützen, Gebirgszüge wenig mehr als zaghaft angedeutete Verwerfungen. Selbst die Steppe, die ihm immer so weit erschienen war, war nun nichts als ein kleiner braungrüner Fleck. Er wusste nicht, warum er so sicher war, dass es sich ausgerechnet bei diesem einen Fleck um seine Steppe handelte. Er wusste es einfach und dachte nicht weiter darüber nach. Er nahm es ebenso gleichmütig zur Kenntnis wie die Tatsache, dass er auf etwas stand, was er eigentlich nur aus Legenden kannte: dem Gipfel eines Berges.
Rings um ihn fielen schroffe Hänge steil ab. Zu steil, als dass ein ungeübter Bergwanderer sie hätte bezwingen können. Teriasch spürte ob der Leere zwischen sich und der winzigen Welt dort unten plötzlich einen Schwindel. Ich muss hier heraufgeflogen sein!
»Wer bist du?«, fragte ihn die Windstimme ein weiteres Mal.
Er horchte nach dem Ursprung der Stimme. Der lag irgendwo hinter ihm, also drehte er sich um – und verstand, dass er sich in einem Traum aufhielt. Er wollte sich nur noch kein Urteil erlauben, ob es sein Traum oder der Traum jener Kreatur war, die dort auf einem Felsvorsprung ruhte, wo
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