Heldenzorn: Roman (German Edition)
meinte er, ein trauriges Seufzen zu hören, und ihm standen die Haare zu Berge. Er beeilte sich, von der Zeder herunterzukommen, rannte zum Haus seiner Liebsten, nahm die Leiter zu ihrem Fenster, die sie für ihn bereitgestellt hatte, und betrat bebenden Herzens ihr Schlafgemach. Da erblickte sie ihn, wie er da stand, die Blüte in der Hand, trunken vor Glück, heiße Tränen im Gesicht.« Rukabo riss die Arme in die Höhe. »Und was macht diese undankbare Kuh? Sie schreit das ganze Haus zusammen. ›Blut! Blut! Blut!‹ Das war es nämlich in Wahrheit, was der einfältige Knabe für Tränen hielt, die ihm über die Wangen rannen. Blut. Aus seinem Auge. Dort, wo ihn einer der feinen Stacheln gestochen hatte. Die Brüder der holden Maid kamen hereingestürmt, prügelten unseren Knaben windelweich und schleppten ihn zurück zu seiner Familie.« Rukabo ließ die Arme sinken. »Und weißt du, was ihn dort erwartete? Keine tröstenden Worte, keine Salbe für seine Wunden. Vorwürfe und Verwünschungen, Tritte und Schläge, das bekam er. Er hatte etwas aus dem Garten des Dominex gestohlen, und dafür konnte es nur eine Strafe geben: Sie verstießen ihn. Sie steckten ihn in einen Sack und luden ihn in der finstersten Gasse ab, die sie finden konnten. Und so begab es sich, dass der arme Knabe sein Zuhause, seine Familie und seine Liebste verlor. Doch damit nicht genug: Das Auge, in das ihn der Stachel getroffen hatte, änderte seine Farbe. Aus dem Grün der Hoffnung, mit dem der Knabe in die Welt geblickt hatte, wurde das kalte Blau eines steinernen Herzens, dem es fortan unmöglich war, sich für einen anderen in Zuneigung und Hingabe zu öffnen.« Rukabo klimperte mit den Wimpern, um Fulmar auf die Farbe seiner Augen aufmerksam zu machen. »Hast du so etwas Ergreifendes schon einmal gehört, Chronist ?«
Fulmar drehte ein Bällchen Käse zwischen seinen Fingern, roch daran und warf es mit angewidertem Gesichtsausdruck zurück in die Schüssel. »Was ich schon einmal gehört habe, ist, dass es vor einigen Jahren große Aufregung um einen Vorfall im Lustgarten des Dominex gab. Mir wurde zugetragen, ein junger Angehöriger der Halblingsfamilie, die als Herrschaftliche Gärtner angestellt sind, habe sich von einer Alchimistin anheuern lassen, ihr eine seltene Blume zu stehlen. Besagter Gärtnergeselle soll sich zuvor hauptsächlich durch einen Hang zur Faulheit und eine Vorliebe für teure fleischliche Genüsse jedweder Art ausgezeichnet haben. Besagte Alchimistin wiederum habe ihn verführt mit dem Angebot, bei erfolgreicher Erledigung einen ganzen Topf Pfefferhonig aus der Stadt der Schleier von ihren Brüsten lecken zu dürfen. Bedauerlicherweise verunreinigte der Dieb die Beute mit seinem Blut, weil er sich bei seinem nächtlichen Gang einen Ast ins Auge rammte, und die Alchimistin sah sich gezwungen, ihren Helfer gegenüber dessen Familie als verirrten Liebenden auszugeben, der ihr ungefragt ein Geschenk machen wollte. Um größeren Schaden von sich abzuwenden, blieb der Familie nichts anderes, als den Nichtsnutz auf die Straße zu setzen. Auch und gerade als Abschreckung für mögliche Nachahmer. Was aus ihm geworden ist? Nun, in den entsprechenden Kreisen zeigt man sich seitdem über einen umtriebigen Dieb mal begeistert, mal beunruhigt. Begeistert, wenn er dank seiner guten Kenntnisse der Lebensweise der Reichen und Schönen und seiner Nähe zu einstigen Freunden im Palast eine räuberische Großtat vollbringt, die man ihm wegen seiner ungewöhnlichen Statur nicht zugetraut hätte. Beunruhigt, sobald infolge dieser Großtat die empörten Numates in Sorge um ihr Hab und Gut Druck auf den Pollox und den Primigladius der Stadtwache ausüben, dringend ein paar dreiste Diebe einzusammeln und in die Arena zu schicken.«
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte Rukabo und erweckte den Eindruck, als versuchte er, möglichst klein und unauffällig zu wirken.
»Am liebsten rede ich über wichtige Dinge.« Fulmar suchte Teriaschs Blick. »Und das, dem du dich widersetzt, wie nur du und wenige andere es können, ist wichtig. Ich nehme an, du schläfst schlecht, seit du das Kollare trägst, hm?«
Teriasch, der mit den Gedanken noch bei Rukabos Erzählung war, zuckte zusammen. »Woher weißt du das?«
»Er macht mir Angst, Teriasch«, flüsterte Rukabo.
Ein klirrendes Krachen ließ alle drei herumfahren. Silicis war aufgestanden, den Henkel des Krugs, den er an der Tischkante zerschlagen hatte, noch in der Hand. »Genug
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