Heldenzorn: Roman (German Edition)
Reize ohne die ständigen Kommentare seines Freundes zu bestaunen. Er ertappte sich allerdings wieder und wieder dabei, alles, was er sah, in irgendeine Beziehung zur Tochter des Dominex zu setzen. Die roten Dächer der Häuser erinnerten ihn an ihr Haar. Wenn ein Karren beim Vorbeifahren Staub aufwirbelte, dachte er sofort an das Tuch vor ihrem Gesicht. Passierte er einen Schrein, vor dem Blumenkränze als Opfergabe abgelegt waren, hatte er gleich den Duft ihrer Haut in der Nase.
Und als er sich auf einem Platz, der als Sklavenmarkt diente, einen Weg durch eine riesige Menschentraube bahnte, fragte er sich, wie viel leichter dies Nesca dank Cardas tatkräftiger Hilfe wohl gefallen wäre. Er war derart in Gedanken versunken, dass er erst Notiz von dem Anlass für den Trubel nahm, als er und Rukabo sich in der vordersten Reihe eines johlenden Publikums wiederfanden, das eine lautstarke Auseinandersetzung beobachtete.
»Ich habe für sie bezahlt!«, schrie ein schmächtiger Mann und versuchte, einem anderen Kerl, der ihn um zwei Köpfe überragte, etwas aus der Hand zu reißen.
»Und du schuldest mir noch weitaus mehr, als die da jemals wert ist!«, brüllte der Hüne zurück. »Also gehört sie mir!«
Der Streit drehte sich allem Anschein nach um ein fülliges Mädchen, das vielleicht fünfzehn oder sechzehn Sommer gesehen hatte und den Zwist mit bebenden Lippen und feuchten Augen verfolgte. Sie trug ein einfaches Kleid aus braunem Leinen – und ein Kollare um den Hals.
»Oh, das wird gut!«, brach Rukabo sein langes Schweigen und klatschte in die Hände. »Wart’s nur ab!«
Teriasch war skeptisch. Das sieht mir nach einer ausgemachten Sache aus. Der eine ist dem anderen doch klar überlegen. Da könnte ich genauso dabei zusehen, wie sich ein Schakal und ein Bär um ein totes Pferd balgen …
Womit Teriasch nicht rechnete, war der Mut der Verzweiflung, der dem schmalbrüstigeren der beiden Kontrahenten gegeben war. Der Mann sprang nach vorn, packte den Arm seines Gegners und biss ihm kräftig in die Pranke.
Die Menge applaudierte eifrig wie bei einem Arenakampf, wenn endlich Blut zu sehen war.
Der Hüne hämmerte dem Schmächtigen zweimal die Faust auf den Kopf. Ohne nennenswertes Ergebnis: Der Hänfling biss nur umso kräftiger zu, und das Blut, das aus seiner aufgeplatzten Braue spritzte, vermischte sich mit dem des Hünen, das ihm zwischen den Lippen hervorquoll. Schließlich gab der Hüne nach. Er grunzte und öffnete die Faust, in die sich sein Feind verbissen hatte. Ein kleines Fläschlein rutschte heraus und klirrte auf das Pflaster zu Füßen der Streitenden.
Die Menge verstummte so plötzlich, als hätte ihr der Dominex höchstselbst das Schweigen befohlen.
»O nein. O nein. Verbockter Dung!«, fluchte Rukabo.
Der Hüne und der Hänfling traten einen Schritt voneinander zurück, starrten abwechselnd zwischen der kleinen gelben Pfütze, die sich langsam um das winzige Gefäß bildete, und dem Grund ihres Zanks hin und her. Das Mädchen heulte auf und krallte die Finger um sein Kollare. Der Reif zuckte in seinen Händen wie eine Schlange. Es warf sich zu Boden, rollte sich hin und her.
»Hat denn niemand ein Messer?«, rief Rukabo in die Menge. »Das arme Ding. Jemand muss es erlösen.«
Einige der Leute gingen nun plötzlich weiter, als fiele ihnen ein, dass sie noch etwas Dringendes zu erledigen hatten. Manche kopfschüttelnd, andere leise vor sich hinmurmelnd, aber alle mit gesenktem Blick.
Teriasch war wie gelähmt. Selbst der Teil in ihm, der sonst nichts als Zorn kannte, war von einem namenlosen Schrecken überwältigt.
Das Mädchen hatte sich inzwischen den Hals blutig gekratzt, doch dies war bei Weitem nicht das schlimmste an seinem Anblick. Gelber Schleim quoll ihm aus Mund und Nase und machte aus den Schreien, die er nicht vollkommen erstickte, ein blubberndes Röcheln. Es hustete und würgte, doch es erbrach immer nur noch mehr von der widerlichen Masse. Der Gestank, der von der jungen Frau ausging, war der von fauligem Moder, wie ihn die Leiber Ertrunkener verströmten, nachdem sie Tage und Wochen im Wasser gelegen hatten.
»Ein Messer! Ich bitte euch!«, kreischte Rukabo.
Die beiden Männer, die um das Mädchen gestritten hatten, suchten eilig das Weite wie geprügelte Hunde, zu feige, sich dem Grauen zu stellen, das sie zu verantworten hatten. Die Menge löste sich weiter und weiter auf, bis sie nur noch aus zwei Sorten von Menschen bestand: denen, die wie Teriasch nicht mehr
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