Heldin wider Willen
Anforderung stammte von einem Spezialisten zur Schadensbewertung auf der Wraith, der dort einige Kommunikationsleitungen ersetzt haben wollte. Esmay rief Pitak.
»Aha! Gut für Sie. Nein, ihr Lieben, ihr erhaltet jetzt noch nicht Gelegenheit, selbst Prioritäten festzulegen«, sagte Pitak.
Sie kennzeichnete den Antrag und leitete ihn an Commander Seveches Schuppen weiter. »Sie möchten es allerdings immer gern«, erklärte sie und lächelte Esmay an. »Sie denken, sie würden uns helfen, indem sie sich überlegen, was sie brauchen, obwohl sie das Problem der richtigen Reihenfolge nicht
einschätzen können. Wir können bei den Spezialstoffen nicht einfach mit irgendwas anfangen, solange wir auf bautechnischer Ebene nicht alles kennen, was wir brauchen. Falls wir die Wurst in Gang setzen, um Dinge zu produzieren, die wir noch nicht brauchen, sodass sie keine Kapazitäten frei hat für das, was wir sofort brauchen, dann scheitern wir entweder bei unserem Auftrag oder sitzen herum wie Enten auf einem Teich, bis das Ding fertig geworden ist.«
»Was kommt zuerst an die Reihe?«, fragte Esmay, da Pitak es nicht eilig zu haben schien, sich wieder dem Modell auf dem Fußboden zuzuwenden.
»Nach Begutachtung und Evakuierung müssen wir zuerst die Altschäden beseitigen – immer liegt irgendetwas vor, das man nicht sieht, bis man die Haut abgezogen und wenigstens zehn Meter freigelegt hat, die man für unbeschädigt hielt. Mir ist egal, was immer über Diagnoseausrüstung gesagt wird; nichts geht darüber, einen Kadaver aufzuschneiden, wenn man
herausfinden möchte, wie die Knochen aussehen. Alles, was so 347
schlimm beschädigt ist wie die Wraith, muss vom Grundgerüst an neu aufgebaut werden, ganz wie ein neues Schiff. Es ist schwieriger, weil wir wirklich versuchen, etwas vom alten zu bewahren … Zwar sparen wir Zeit und Material, aber der
Vorgang ist weniger effizient als der Bau eines ganz neuen Schiffes. Ich schätze, dass wir von den Spezialstoffen zunächst viel längere Kristalle benötigen, in Clustern gezüchtet und in der Null-G-Sektion durch Harz gebunden. Sie dienen als
stabilisierende Gerüste für die eigentliche Reparatur später.
Dann brauchen wir große Rahmenbauteile … deren Herstellung Wochen dauern kann. Niemand hat bislang herausgefunden, wie man die langen Teile und die ringförmigen im selben Schub anfertigt. Derweil können die Matrizen-und
Gussformabteilungen an kleinen Sachen arbeiten wie
Lukenrahmen und Luken. Die linearen Kristalle für die
Kommunikationsleitungen kommen viel später an die Reihe.«
»Ich verstehe.« Esmay hatte das Gefühl, jetzt viel besser zu begreifen, warum Pitak sie mit dieser scheinbar unwichtigen Aufgabe betraut hatte. Sie wusste inzwischen viel mehr über Schiffsrümpfe, aber an dieses Problem der richtigen
Reparatursequenz hatte sie noch nie gedacht. Es ergab jetzt Sinn.
»Wie würde Ihnen ein kleines Abenteuer gefallen?«, fragte Pitak.
»Abenteuer?«
»Ich brauche jemanden, der den Rumpfbruch visuell prüft, und alle, die ich zur Hand habe, sind beschäftigt. Sie benötigen natürlich einen Raumanzug … Gehen Sie mit den ersten Teams hinüber, nehmen eine Videocam und einen Sender mit und
zeichnen alles für mich auf.«
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»Ja, Sir.« Esmay wusste nicht, ob sie aufgeregt war oder Angst hatte.
»Es heißt, dass wir in etwa sechs Stunden in Position sind.«
Esmay hatte seit der Akademie nie mehr einen Weltraumspaziergang unternommen – und damals war es von einem
Ausbildungsshuttle aus geschehen, das nur einen Kilometer vor einer großen Raumstation hing und in Sichtweite eines
bewohnbaren Planeten. Hier draußen war sogar der örtliche Stern weit weg, kaum als Scheibe erkennbar und nur eine
minimale Lichtquelle. Die strahlenden Lichter der Koskiusko überfluteten die ihr zugewandte Flanke der Wraith und warfen dabei scharf umrissene schwarze Schatten. Esmay bemühte sich, nicht an das Nichts zu denken, das sie umgab, oder an die Art, wie ihr der Magen aus den Ohren zu kriechen versuchte, und betrachtete lieber das beschädigte Schiff. Sie hatte die Außenseite eines Schiffs noch nie mit eigenen Augen statt mit einem Videoscan gesehen … und der Anblick war lehrreich.
Wie die meisten Kriegsschiffe der Familias wies die Wraith ein langes, abgerundetes Profil auf, das man mit einer
aerodynamischen Stromlinienform hätte verwechseln können –
das aber vielmehr aus einem Kompromiss zwischen diversen bautechnischen Beschränkungen
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