Heldin wider Willen
Schritt hatte etwas Endgültiges an sich – sobald sie die Sicherungsleine vom Gerüstkabel gelöst hatte, hing sie ganz von der eigenen Fähigkeit ab, Flicken und Stifte zu montieren. Die Vorsicht wies sie mahnend darauf hin, dass sie keine Spezialistin für Weltraumspaziergänge war… dass sie 354
nicht über die richtigen Reaktionen verfügte, falls etwas schief ging. In der Einsamkeit ihres Helms lachte Esmay die Vorsicht aus. Sie hatte früher auf die Vorsicht gehört, und was hatte es ihr genützt? Zuerst hatte man sie für dumm gehalten und dann für eine wilde Radikale.
Das hier unterschied sich gar nicht so vom Bergsteigen an der Wand ihres Tales oder vom Trainieren an der Kletterwand der Kos. Die Hand ausstrecken, einen Haftflicken ansetzen, dann einen Stift, sich in den Stift einklemmen und an dieser
Sicherung vorbei zur Nächsten weitersteigen. Zwanzig Stifte weiter war sie über den ausgewölbten Rumpfschaden hinaus …
Die Auslasspunkte für den Bugschild hätten eigentlich
glänzende Klümpchen sein müssen, die ein paar Zentimeter über den Rumpf aufragten, zeigten sich jetzt aber nur noch als schartige Löcher. Esmay drehte die Lampe an ihrem
Helmvideoscanner weiter auf, um sich das genauer anzusehen.
Etwas glitzerte dort vor ihr. Noch mehr Trümmer – und
sicherlich wollte Major Pitak Bilder davon haben. Esmay
platzierte einen weiteren Stift, klemmte sich vorsichtig ein und arbeitete sich mit den Fingern näher an ihre Entdeckung heran.
Dann versuchte sie sich rückwärts zu schieben und bewegte sich dabei so heftig, dass sie vom Rumpf geschleudert wurde und mit einem Ruck am Ende ihrer Leine landete. Sie versuchte in eine Position zu schwimmen, in der sie wieder etwas sehen konnte, möglichst ohne an den Rumpf zu stoßen … was, wenn es zwei davon gab?
War sie überhaupt sicher, was sie da gesehen hatte? Und
selbst wenn ja, konnte es sich immer noch um Waffen der
Wraith handeln, die zufällig am Rumpf stecken geblieben waren
… Irgendeine Reaktion ermöglichte schließlich, dass Esmay die 355
Lage begriff. Sie zwang sich dazu, langsam zu atmen. Eine Mine. Es war eine Mine, die präzise so aussah wie im Handbuch über feindliche Waffensysteme, das sie sich unterwegs zur Station Sierra auf dem Versorgungsschiff angeschaut hatte.
Derweil holte sie sich selbst Hand über Hand wieder ein, wobei sie die letzte Klammer mit zu hohem Tempo erreichte und so heftig an den Schiffsrumpf knallte, dass sie sich blaue Flecken holte und wieder abgeprallt wäre, hätte sie nicht rechtzeitig den Stift und die nach außen führende Leine mit einer Hand gepackt und die nach innen führende Leine mit der anderen, sodass ihre Arme sie abfingen. Jetzt wünschte sie sich doch, sie hätte Magnetflicken an den Stiefeln. Sie hatte das Gefühl, sehr lange dort zu hängen und dabei hin und her zu pendeln. Endlich legten sich die Oszillationen. Mit großer Vorsicht langte Esmay nach der nächsten Klammer weiter innen und löste dann die Leine vom entsprechenden Stift. Zwanzig …
zweiundzwanzig … siebenundzwanzig Klammern insgesamt,
die jede nur langsam und vorsichtig zu passieren war. Esmay dachte mehrmals daran, ihr Helmfunkgerät zu benutzen – aber stellte diese Mine nun einen Notfall dar? Falls sich niemand sonst ihr näherte, ehe Esmay ihre Leute gewarnt hatte … Und die Gerüstmannschaft war noch damit beschäftigt, ihre Arbeitsplätze im Rumpfbruch aufzubauen.
Als sie es wieder bis zum Gerüstkabel geschafft und dort ihre Sicherungsleine angeklemmt hatte, hatte sie das Gefühl, dafür mindestens eine halbe Arbeitsschicht gebraucht zu haben. Ihre Uhr zeigte jedoch, dass kaum eine Stunde vergangen war. Sie nahm den großen Videoscanner wieder an sich und blickte sich nach dem Chief der Gerüstmannschaft um. Sie konnte nicht zur Koskiusko zurückkehren, ohne vorher hier jemanden zu warnen.
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Endlich entdeckte sie ihn und arbeitete sich Leine um Leine vor, bis sie ihm auf die Schulter und dann das Funkpad tippen konnte, das er mitführte. Sein Helm nickte. Rasch zeichnete Esmay eine unbeholfene Skizze des Bugs – erst die Wölbung und dann die Mine. MINE druckte sie in sorgfältigen
Buchstaben.
Er schüttelte den Kopf. Esmay nickte. Er deutete auf den großen Videoscanner und malte ein Fragezeichen. Sie musste mit dem Kopf schütteln und auf die Scannerlinse ihres Helms zeigen. FOLGEN, signalisierte er ihr und führte sie am Gerüst entlang zu einem Komnexus. In Esmays Abwesenheit hatte die
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