Heldin wider Willen
willst du noch Soldaten finden, die bereit sind, ihr Leben zu riskieren, falls es die Unsterblichkeit zur Folge hat, wenn man nur Risiken vermeidet? Nicht die Unsterblichkeit der Gläubigen, die sie nach dem Tod erwarten, sondern die Unsterblichkeit des
hiesigen Lebens.«
»Die Verjüngung funktioniert vielleicht in einer Zivilgesellschaft«, sagte Berthol, »aber wir denken, dass sie im Militär nur Schwierigkeiten macht. Selbst wenn man seine besten und erfahrensten Leute behält, aus der Ausbildungsroutine für Rekruten wäre man bald heraus – und die Bevölkerung, der man dient, wäre rasch aus der Routine heraus, sie einem zu liefern.
Was bedeutet«, fuhr er fort, »dass eine militärische Organisation, die noch etwas anderes als Schlamm zwischen den Ohren hat, einsehen muss, dass sie nicht umhin kann, die Nutzung der Verjüngungstechnik zu begrenzen – oder eine
fortwährende Expansion zu planen. Und irgendwann wird sie auf eine jugendgeprägte Kultur stoßen, eine Kultur, die keine Verjüngung betreibt und die kühner und aggressiver ist.« Er hatte noch nie der Versuchung widerstehen können, einen Punkt zu elaborieren.
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»Das klingt nach dem alten Streit zwischen den Religiösen und den Nichtreligiösen«, fand Esmay. »Falls die Seele wirklich unsterblich ist, dann kommt es vor allem auf ein umsichtiges Leben an, um sicherzustellen, dass sich die Seele für die Unsterblichkeit qualifiziert…«
»Ja, aber alle uns bekannten Religionen, die diesen Preis anbieten, definieren eine solche Umsicht strenger. Sie fordern aktive Tugenden ein, die den Gläubigen disziplinieren und seine oder ihre Selbstsucht einschränken. Manche verlangen sogar das Gegenteil von Umsicht – den unbedachten Einsatz des Lebens im Dienst an der Gottheit. Das bringt gute Soldaten hervor; deshalb sind Religionskriege auch so viel schwieriger zu beenden als andere.«
»Und deshalb«, warf Esmay ein, um Berthol zuvorzukommen, »findet ihr, dass die Verjüngung eine rein praktische Umsicht, reine Selbstsucht belohnt oder ermutigt?«
»Ja.« Ihr Vater runzelte die Stirn. »Zweifellos werden auch gute Menschen verjüngt werden …« Esmay fiel auf, wie er
voraussetzte, dass gute Menschen nicht egoistisch sein würden.
Das war eine seltsame Annahme für einen Mann, der selbst reich und mächtig war… Aber er verstand sich natürlich nicht als selbstsüchtig. Er hatte nach seinen Vorstellungen nie selbstsüchtig sein müssen, damit auch der Geringste seiner Wünsche erfüllt wurde. »Selbst sie werden jedoch im Verlauf mehrerer Verjüngungen erkennen, wie viel mehr Gutes sie tun können, solange sie leben und ihre Mittel in der Hand haben. Es ist leicht, sich etwas vorzumachen, sich davon zu überzeugen, dass man mit mehr Macht mehr Gutes tun kann.« Er starrte ausdruckslos die Bücher an; betrieb er hier Selbsteinschätzung?
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»Und dabei haben wir noch nicht mal die Abhängigkeit
berücksichtigt, die entsteht, wenn man sich auf Verjüngung stützt«, sagte Berthol. »Solange man den Vorgang nicht selbst in der Hand hat, kann Panscherei…«
»Wie kürzlich geschehen«, fiel ihr Vater ein.
»Das weiß ich ja«, unterbrach Esmay die beiden und schnitt damit die Belehrung über das Offenkundige ab; sie war nicht in Stimmung für einen längeren Vortrag Berthols.
»Gut«, sagte der Vater. »Also, wenn man dir eine Verjüngung anbietet, Esmaya, wie wirst du reagieren?«
Darauf wusste sie keine Antwort; über diese Frage hatte sie noch nie nachgedacht. Ihr Vater wechselte das Thema und
wandte sich einer Rekapitulation der Zeremonie zu. Esmay entschuldigte sich bald darauf und ging zu Bett.
Als sie am nächsten Morgen im eigenen Bett und im eigenen Zimmer erwachte, während das Sonnenlicht hell auf die Wände fiel, staunte sie über den Frieden, den sie spürte. Sie hatte in diesem Bett genug schlimme Träume durchlitten; sie hatte befürchtet, dass die Albträume zurückkehren könnten. Vielleicht war durch die Heimkehr so etwas wie ein notwendiges Ritual abgeschlossen worden, und sie waren für immer verbannt.
Mit diesem Gedanken lief sie hinunter zum Frühstück, wo
ihre Stiefmutter das morgendliche Tischgebet sprach, und dann hinaus ins kühle Gold eines Frühlingsmorgens. Vorbei ging es an den Küchengärten und den Hühnerpferchen, wo jede Henne ihre Bereitschaft herauszugackern schien, Eier zu legen, und wo jeder Hahn seine Rivalen trotzig ankrähte. Sie hatte das schon schwach durch ihr Fenster an der Hausfront
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