Heldin wider Willen
aufsteigen können … Butterstücke in der Form von Wappentieren. Sie erinnerte sich an die
Formen, die in einer Reihe in der Küche hingen. Sie erinnerte sich auch an die Brötchen – die man nicht kalt werden ließ, weil sie dann trocken und geschmacklos wurden. Sie hatten es
verdient, in frische Butter oder Honig getaucht zu werden.
Als sie wieder auftauchte, um nach Luft zu schnappen, schien sich ohnehin niemand um sie zu kümmern. Die anderen waren mit dem Essen fertig; Diener räumten gerade die Teller ab.
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»Das ist eine Frage des Stolzes«, sagte Papa Stefan gerade zu Kusine Luci. »Esmaya würde niemals versagen, wo es um die Ehre der Familie geht.« Esmay blinzelte; Papa Stefans
Vorstellung von Familienehre wies unerforschte Landschaften auf, die niemand bislang vollständig erkundet hatte. Sie hoffte, dass er nicht dabei war, eine seiner Intrigen auszubrüten und ihr darin die Rolle der Heldin zuzuweisen.
Luci war in dem Alter, in dem Esmay fortgegangen war, und sie sah ganz so aus, wie Esmay sich selbst in Erinnerung hatte: Groß, schlaksig, weiches braunes Haar, das sie streng
zurückgekämmt trug, dem aber kleine Büschel entflohen und so die gewünschte Wirkung zunichte machten; Kleider, die
eindeutig für einen besonderen Anlass gedacht waren, aber zerknittert und ohne Schick wirkten. Luci blickte auf, sah, dass Esmay sie anschaute, und wurde rot. Damit machte sie einen ebenso eingeschnappten wie ungepflegten Eindruck.
»Hallo, Luci«, sagte Esmay. Sie hatte Papa Stefan und die Alteren schon begrüßt; die Kusinen standen weit unten auf der Liste für obligatorische Grüße. Sie wollte etwas Hilfreiches sagen, aber nach zehn Jahren hatte sie keine Ahnung mehr, wofür sich Luci begeisterte – dafür jedoch eine sehr klare Erinnerung daran, wie peinlich es war, wenn Ältere vermuteten, dass man immer noch an den Puppen hing, mit denen man im Alter von fünf oder sieben gespielt hatte.
Papa Stefan lächelte sie an und tätschelte Lucis Arm.
»Esmaya, du weißt sicher noch nicht, dass Luci die beste Polo-spielerin ihrer Klasse ist.«
»So gut bin ich nun auch nicht«, murmelte Luci verlegen.
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»Wahrscheinlich doch«, sagte Esmay. »Ich bin sicher, dass du besser bist als ich.« Sie hatte noch nie einen Sinn darin gesehen, auf einem Pferd herumzureiten und dabei einem Ball hinterherzujagen. »Spielst du in der Schul-oder der
Familienmannschaft?«
»In beiden«, antwortete Papa Stefan. »In diesem Jahr
möchten wir Meister werden.«
»Falls wir Glück haben«, sagte Luci. »Und wo wir schon
davon sprechen, ich wollte nach dieser Stute fragen, die mir Olin gezeigt hat.«
»Frag Esmay. Ihr Vater hat eine ganze Reihe als Bestandteil der Schenkung gekauft, und diese Stute gehört dazu.«
Zorn blitzte in Lucis Augen auf; Esmay war sowohl über die geschenkten Pferde erschrocken als auch über die unerwartete Reaktion ihrer Kusine.
»Davon wusste ich gar nichts«, erklärte Esmay. »Er hat gar nichts gesagt.« Sie sah Luci an. »Falls du ein spezielles Pferd haben möchtest, bin ich sicher, dass …«
»Vergiss es«, sagte Luci und stand auf. »Ich möchte der
heimgekehrten Heldin schließlich nicht ihre Beute wegnehmen.« Sie bemühte sich um einen lockeren Ton, aber die Bitterkeit dahinter wurde deutlich.
»Luci!« Papa Stefan sah sie finster an, aber Luci war schon zur Tür hinaus. Sie tauchte an diesem Abend nicht wieder auf.
Niemand sagte etwas dazu, aber man erhob sich allmählich schon von der Tafel… Esmay wusste noch aus der eigenen
Jugend, dass man über einen solchen Vorfall nicht in
Gesellschaft redete. Sie beneidete Luci nicht um Sannis harte 111
Worte, die sie zweifellos bald in privater Umgebung zu hören bekommen würde.
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Kapitel fünf
Nach dem Dinner suchte Esmay die Privatwohnung ihrer
Urgroßmutter auf. Schon vor zehn Jahren hatte die alte Dame in eigenen Räumlichkeiten gewohnt und sich geweigert, mit im Haupthaus zu leben, aufgrund irgendeines Streits, den niemand erklären konnte. Esmay hatte sich erfolglos bemüht, es ihr zu entlocken, aber ihre Urgroßmutter war nicht von der Sorte, die viel davon hielt, Geheimnisse zu teilen; Esmay hatte sich vor ihr gefürchtet, vor diesem scharfen Blick, der sogar Papa Stefan zum Schweigen bringen konnte. In diesen zehn Jahren waren die silbernen Haare ausgedünnt und hatten die einst strahlenden Augen ihren Glanz verloren.
»Willkommen, Esmaya.« Die Stimme klang unverändert, und
es war die Stimme
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