Heldin wider Willen
Ihre Abstammung durchgeschlagen hat, hm?«
Wie konnte sie ihn nur höflich und diskret loswerden? Sie konnte ihn kaum anweisen zu gehen, weil sie Kopfschmerzen hatte. Suizas behandelten ihr Gäste nicht so. Aber sie brauchte ein paar Stunden für sich – und wie sie sie brauchte!
»Esmaya?« Sie blickte auf. Ihr Halbbruder Germond lächelte sie schüchtern an. »Vater lässt fragen, ob du in den
Wintergarten kommen könntest?« Er wandte sich an Coron.
»Falls Sie sie entschuldigen würden, Sir?«
»Selbstverständlich. Jetzt ist die Familie an der Reihe …
Esmaya, danke für Ihre Zeit.« Er verneigte sich, jetzt zum Abschluss wieder ganz förmlich, und ging.
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Kapitel sechs
Esmay wandte sich an Germond, der inzwischen fünfzehn war und ganz aus Ohren und Nase und großen Füßen bestand. »Was
– möchte Vater?«
»Er ist mit Onkel Berthol im Wintergarten … Er sagte, du würdest es bestimmt langsam leid sein, dir Geschichten eines alten Soldaten anzuhören. Außerdem möchte er dir weitere Fragen über die Flotte stellen.«
Ihr Mund war trocken; sie konnte nicht nachdenken. »Sag
ihm … Sag ihm, Seb wäre gegangen, und ich würde in ein paar Minuten kommen. Ich gehe nach oben, um – mich frisch zu
machen.« Diesmal wirkten sich die undurchschaubaren
Grundlagen der Gesellschaft von Altiplano zu ihren Gunsten aus. Kein Mann würde ihr Bedürfnis in Frage stellen, ein paar Minuten mit sanitären Einrichtungen allein zu sein. Und
niemand würde sie zur Eile drängen.
Rein instinktiv fand sie den Weg die Treppe hinauf; sie sah gar nicht die Messingstangen, die den Teppich präzise dem Profil der Stufen anpassten, und nicht die abgewetzten Stellen darauf. Ihr Körper wusste von allein, wie er hinaufkam, wie er um die Ecken schreiten und die Schalter finden konnte, die ihr absolute Privatsphäre verschafften.
Sie lehnte sich an die Wand, drehte das kalte Wasser auf und hielt die Hände hinein. Sie wusste nicht recht warum. Sie konnte sich überhaupt nicht mehr richtig orientieren, auch nicht über den Lauf der Zeit. Das Wasser schaltete sich automatisch ab, genau wie an Bord eines Raumschiffs, und sie drückte erneut 145
auf den Schalter. Plötzlich erbrach sie sich; die geronnenen Knäuel des Mittagessens platschten in den Strudel sauberen Wassers und verschwanden im Abfluss. Ihr Magen bäumte sich erneut auf und beruhigte sich dann widerstrebend. Sie wölbte die Hand unter dem Hahn und trank eine Hand voll des
sauberen, frischen Wassers. Der Magen rebellierte erneut und gab dann Ruhe. Noch nie hatte sie zu Übelkeit geneigt. Nicht mal damals, nicht mal, als der Schmerz so stark gewesen war, dass sie überzeugt war, auseinander gerissen zu werden. Der wirkliche Schmerz, nicht der eingebildete, den ihr die Fieberträume weisgemacht hatten.
Im Spiegel erblickte sie eine Fremde – eine abgezehrte alte Frau mit widerspenstigen dunklen Haaren und einem von
Tränen überzogenen Gesicht. So ging das nicht. Methodisch nahm Esmay ein Handtuch vom Halter, machte es nass und
reinigte Gesicht und Hände. Sie rieb sich das Gesicht heftig mit dem trockenen Ende des Handtuchs ab, bis das Blut in die Wangen zurückkehrte und die grünliche Färbung der Übelkeit unter einem gesunden rötlichen Schimmer verschwand. Dann ging sie mit feuchten Händen auf die Haare los, drückte lose Strähnen wieder an und trocknete sich die Hände ab. Der Hahn schaltete sich erneut ab, und diesmal öffnete sie ihn nicht mehr.
Sie faltete das nasse Handtuch zusammen und hängte es auf den Halter für die gebrauchten.
Die Frau im Spiegel kam ihr jetzt besser bekannt vor. Esmay zwang sich zu einem Lächeln, und es sah auf dem Gesicht im Spiegel natürlicher aus, als es sich auf dem eigenen anfühlte. Sie sollte sich etwas anziehen, überlegte sie, und sah nach, ob sie ihr Hemd befleckt hatte. Ein paar Tropfen zeichneten sich dunkel auf dem blassen Beige ab. Also hieß es, sich umzuziehen. Sie 146
würde sich in jemand anderen verwandeln … Ihre Gedanken
stolperten über etwas in all dem Qualm, den sie als Einziges sah.
Ihre Bewegungsabläufe folgten nach wie vor der schieren
Gewohnheit, als sie die Tür aufschloss und ins eigene Zimmer zurückkehrte. Als sie sich vom Hemd befreit hatte, wurde ihr klar, dass sie sich komplett umziehen musste, von der Haut an.
Sie tat das so rasch, wie sie konnte, nahm immer das, was in der Schublade jeweils oben lag, und betrachtete sich selbst dabei gerade lange genug, um sich davon zu
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