Heldin wider Willen
Gedanke, den sie formulieren konnte, eine Bitte um
Entschuldigung war: Es tut mir Leid – ich wollte nicht, dass …
Selbst heute wusste sie noch, dass dieser Gedanke sowohl notwendig als auch vergebens gewesen war. Es war nicht ihre Schuld gewesen – sie hatte den Krieg nicht verursacht –, aber sie war dort und bislang unverletzt, und dafür, wenn schon für nichts anderes, musste sie sich entschuldigen.
An jenem Tag war sie das zerstörte Sträßchen entlangge—
stolpert, war immer wieder gestürzt, hatte geweint, ohne es zu merken, bis die Beine endgültig versagten und sie sich in eine Ecke kauerte, in irgendjemandes Garten, in dem einst Blumen geblüht hatten. Der Lärm stieg und fiel; schattenhafte Gestalten 141
bewegten sich durch den Qualm, von denen manche die eine Farbe trugen und andere abweichende Farben. Die meisten
davon mussten, wie ihr später klar wurde, entsetzte Fahrgäste aus dem Zug gewesen sein, andere hingegen Rebellen. Später –
später trugen alle die gleiche Uniform, die Uniform, die Esmay kannte, die auch ihr Vater und Onkel trugen.
Aber sie erinnerte sich nicht. Sie konnte sich nicht erinnern, nicht an alles. Sie hatte sich erinnert, und man sagte ihr, es wären Träume gewesen.
»Ich war immer der Ansicht, dass es besser gewesen wäre, es Ihnen zu sagen«, erzählte Sebastian. »Zumindest, sobald Sie alt genug geworden waren. Zumal der Mann tot war und
niemandem mehr wehtun konnte, am wenigsten Ihnen.«
Sie wollte das gar nicht hören. Sie wollte sich nicht daran erinnern … Nein, sie konnte es gar nicht. Fieberträume, dachte sie. Nur Fieberträume.
»Schlimm genug, dass so etwas überhaupt passiert ist, egal wer es tat. Ein Kind zu vergewaltigen – da wird einem ja schlecht. Aber dass es einer der unseren war …«
Sie konzentrierte sich auf den einen Punkt, den zu wissen sie ertragen konnte. »Ich … wusste gar nicht, dass er tot ist.«
»Nun, Ihr Vater konnte Ihnen das ja kaum sagen, ohne auch den Rest zur Sprache zu bringen, nicht wahr? Er hoffte, Sie würden die ganze Sache vergessen – oder sie für einen
Fiebertraum halten.«
Er hatte behauptet, es wäre ein Fiebertraum; er hatte gesagt, es wäre jetzt vorbei und sie würde immer in Sicherheit sein …
Er hatte gesagt, er wäre nicht böse auf sie. Und doch hatte sein Zorn sie umhüllt wie eine riesige Wolke, eine gefährliche 142
Wolke, die ihren Verstand blendete, wie der Qualm ihre Augen geblendet hatte.
»Sind Sie – sicher?«
»Dass dieser Mistkerl umgekommen ist? O ja – daran hege
ich überhaupt keinen Zweifel.«
Die unsichtbaren Rädchen surrten, stoppten, glitten dann mit einem unhörbaren letzten Knirschen an Ort und Stelle. »Haben Sie ihn umgebracht?«
»Die Karriere Ihres Vaters stand auf dem Spiel. Offiziere dürfen ihre Männer nicht einfach umbringen, nicht einmal Tiere, die Kinder vergewaltigen. Und zu warten und ihn vor Gericht zu stellen – das hätte Sie wieder hineingezogen, und das wollte keiner von uns. Besser, wenn ich es tat und die Schuld auf mich nahm … Obwohl man mich letztlich nur ordentlich
zusammenstauchte. Mildernde Umstände.«
Oder rechtfertigende … Sie konzentrierte sich voller Eifer auf diese kurze Ablenkung, als sie daran denken musste, dass mildernde und rechtfertigende Umstände zwar ähnlich waren, aber sozusagen rechtlich unterschiedlichen Zwecken dienten.
»Ich bin froh, das zu hören«, sagte Esmay, um irgendwas zu sagen.
»Man hätte es Ihnen erzählen sollen«, fuhr er fort. Dann wirkte er verlegen. »Nicht, dass ich darüber geredet hätte, müssen Sie wissen. Es war sinnlos, sich mit Ihrem Vater auseinander zu setzen. Und Sie waren schließlich seine Tochter.«
»Machen Sie sich darüber keine Gedanken«, sagte Esmay. Es fiel ihr schwer, bei der Sache zu bleiben; sie hatte das Gefühl, 143
dass ihr die Umgebung langsam entglitt, auf einer Spirale nach links entschwand.
»Und sind Sie sicher, dass Sie alles geklärt haben – außer der Tatsache, dass er tot ist, meine ich? Dass man Ihnen beim RSS
wirklich geholfen hat?«
Esmay bemühte sich, ihre Gedanken wieder zum Thema
zurückzuzerren, von dem sie zurückschreckten. »Mir geht es gut«, sagte sie. »Machen Sie sich keine Gedanken.«
»Nein … Wissen Sie, ich war wirklich überrascht, als ich erfuhr, dass Sie den Planeten verlassen und in den Dienst des RSS treten wollten. Dachte mir, Sie hätten genug Kämpfe für ein einzelnes Leben durchgemacht… Aber ich schätze, dass da
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