Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Tiefenpsychologie zum Gemeingut wurden. Beginnend in den USA, kamen mehr und mehr Leitfäden auf den Markt, die Entwicklungsnormen verbreiteten, an denen Eltern – so die vermeintliche Wirkung – ihr Kind messen können sollten bzw. über die Eltern erfahren konnten, was in einer bestimmten Phase der Entwicklung ihres Kindes erwartbar sei. Vermeintliches Expertenwissen verdrängte damit erzieherische Alltagserfahrung, und die Ratgeberei boomte ein erstes Mal. Dabei waren und sind solche Ratgeber oft genug das Problem, als dessen Lösung sie sich ausgeben.
Bei «amazon» etwa findet man allein im deutschsprachigen Raum Zigtausende an Büchern, die unter «Erziehung» laufen und in Buchhandlungen etliche Regalmeter füllen. Im angloamerikanischen Raum dürfte es ein Mehrfaches sein. «Jedes Kind kann schlafen lernen», «Bloß nicht alles richtig machen!» Es gibt keine Frage, die nicht gestellt bzw. vermeintlich schlüssig beantwortet würde: Wegwerfwindel oder Stoffwindel? Welcher Buggy? Welches Bettchen? Eng oder locker wickeln? Schreien lassen oder nicht? Schlafen im Elternbett? Zudem erscheinen allein im deutschsprachigen Raum Jahr für Jahr kostenlose und kommerzielle Magazine für Eltern in einer Auflage von ca. dreißig Millionen. Hinzu kommen über hundert Internetauftritte, die Eltern Hilfe versprechen oder zumindest zur Diskussion von Erziehungsproblemen einladen – zum Beispiel «babynewsletter.de». Und natürlich – für spätere Eltern – «Bravo»! Viele der Eltern heute sind als Kinder und Jugendliche mit diesem Magazin aufgewachsen. Man kann nur hoffen, dass die dort präsentierte Lebens- und Liebesberatung sich nicht in den Köpfen der späteren Eltern festgesetzt hat.
Der Elternknigge des Zeit-Magazins vom 25. Februar 2010 lässt die «55 drängendsten Erziehungsfragen» anscheinend ultimativ von Experten beantworten. Passend dazu finden wir auf dem Titelbild ein kleines Mädchen, das zwei Stinkefinger zeigt. Und dann kommen Antworten auf die folgenden existenziellen und essenziellen Fragen: Darf ich Schimpfwörter benutzen, wenn mein Kind dabei ist? Soll man einem Jungen eine Puppe schenken? Soll ein Kind gehorchen? Bin ich eine schlechte Mutter, wenn mein Kind aufs Internat geht? Darf man in Anwesenheit von Kindern bei Rot über die Ampel gehen? Darf ich meinem Sohn, wenn er geschlagen wird, sagen: Schlag zurück? Darf ich ein Referat für mein Kind schreiben? Wem soll ich glauben: dem Lehrer oder meinem Kind? Darf ich stolz sein, wenn mein Kind in «Betragen» eine Drei hat? Darf ich meiner Tochter verbieten, in der Schule zu viel Dekolleté zu zeigen?
Promis als Erziehungsprofis
Vor allem Ratgeber, die Autorität reklamieren, weil sie von praktizierenden Eltern verfasst wurden, beanspruchen Glaubwürdigkeit. Die soll nochmals dadurch gesteigert werden, wenn sie aus der Feder von Promi-Eltern kommen: Selbsternannte Experten wie Sonya Kraus, Claudia Schiffer, Heidi Klum und Boris Becker melden sich zu Wort.
Die allermeisten dieser Ratgeber setzen auf rezeptologische Vereinfachung sowie pädagogische Breitbandtherapeutika für hochkomplexe Erziehungsphänomene und auf die Generalisierung von Fallbeispielen. Erziehung wird auf einfache Wenn-dann-Beziehungen reduziert, es wird die Illusion von (Mono-)Kausalität erweckt: «Wenn Sie das tun, dann tut Ihr Kind jenes (nicht).»
Im Ergebnis entsteht für Eltern dadurch eine neue Ratlosigkeit, die diese mit der Lektüre weiterer Ratgeber zu beseitigen hoffen. Das Gegenteil ist der Fall: Bald hat man sich dann eine neue Ratlosigkeit angelesen.
Für Helmut Schelsky – «Der selbständige und der betreute Mensch» von 1976 – gehört die Wahl zwischen dem selbständigen und dem betreuten Menschen zu den wichtigsten Zielentscheidungen einer Gesellschaft: «Diese Herrschaft der Betreuer kann politisch in verschiedenen Formen erscheinen: als Wohlfahrtsdiktatur, als Erziehungsdiktatur, als Herrschaft der Funktionäre, als Meinungsbeherrschung und -manipulierung usw.» Die heutige (Un-)Kultur, für alles einen Ratgeber bzw. einen Betreuer in Anspruch zu nehmen, ist nicht weit von der Perspektive entfernt, dass Staat und Gesellschaft gefälligst alles (totalitär?) managen sollen.
Am meisten schürt der Ratgeber-«Overkill» bei vielen Eltern die Sorge, nichts mehr richtig machen zu können oder gar am Pranger zu stehen, weil man dem Gemeinwesen kein funktionierendes Kind hinterlässt. Viele Ratgeber haben trotz der banalen Weisheiten, die dort
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