Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
wo wir waren, und wir hatten nicht mal ein Handy dabei. Wir haben uns geschnitten, brachen Knochen und Zähne und niemand wurde deswegen verklagt. Niemand war schuld, außer wir selbst. Wir kämpften und schlugen einander manchmal bunt und blau. Damit mussten wir leben, denn es interessierte den Erwachsenen nicht. Wir aßen Kekse, Brot mit dick Butter drauf, tranken sehr viel und wurden trotzdem nicht zu dick. Wir gingen einfach raus und trafen die anderen auf der Straße. Oder wir marschierten zu deren Heim und klingelten. Keiner brachte uns und keiner holte uns … Beim Straßenfußball durfte nur mitmachen, wer gut war. Wer nicht gut war, musste lernen, mit Enttäuschungen klarzukommen. Manche Schüler waren nicht so schlau wie andere. Sie rasselten durch Prüfungen und wiederholten Klassen. Das führte nicht zu emotionalen Elternabenden oder gar zur Änderung der Leistungsbewertung. Unsere Taten hatten manchmal Konsequenzen. Wenn einer von uns gegen das Gesetz verstoßen hat, war klar, dass die Eltern ihn nicht aus dem Schlamassel heraushauen. Im Gegenteil: Sie waren der gleichen Meinung wie die Polizei! Unsere Generation hat eine Fülle von innovativen Problemlösern und Erfindern mit Risikobereitschaft hervorgebracht. Wir hatten Freiheit, Misserfolg, Erfolg und Verantwortung. Mit alldem wussten wir umzugehen.»
Alex Rühle setzt diese Liste in der SZ vom 9. April 2010 unter dem Titel «Die spinnen, die Eltern – Wie Angst und Ehrgeiz die Kindheit auffressen» süffisant fort: «Es ist schlichtweg nicht zu erklären, wie all diese Menschen ihre Kindheit überlebt haben: […] Waren nachmittags unbeaufsichtigt draußen. Auf Spielplätzen ohne angeschlossenes Muttercafé! Manche Kinder machten angeblich Lagerfeuer, ja, es soll welche gegeben haben, die alleine auf hohe Birken kletterten und dort mit Hämmern und Nägeln Baumhäuser gebaut haben. Mit Nägeln! Aus tödlich spitzem Stahl!»
Gewöhnt an Einmischung
Gewiss haben Eltern ein Recht, über die schulische Entwicklung ihres Kindes auf dem Laufenden gehalten und über die Gründe einer Entscheidung der Schule aufgeklärt zu werden. Man kann es aber auch übertreiben. Einmischen in Schule ist in. Das tut der Papa, der mit einem Anwalt droht, weil ein Schulbusfahrer seinen Sohn zu Recht, aber eben heftig ermahnt hat. Das tut die Mama, die es lautstark für eine Frechheit hält, dass ein Lehrer ihrer Tochter während des Unterrichts das Handy abgenommen und damit die Vereinbarung eines Abholtermins unmöglich gemacht hat. Das tun die Eltern, die einen Lehrer aus dem Bekanntenkreis bemühen, er möge doch die Leistungsnachweise des eigenen Sprosses nachkorrigieren, und die schon mal wegen einer Note Drei mit juristischen Schritten drohen. Das tut das Mütterquartett, das der Klassenlehrerin erklärt, wie man eine motivierte Klasse durch auflockernde Entspannungs- und Funktionsübungen bekommt und obendrein die Intelligenz der Kleinen fördert.
Heftigstes Einmischen ist ferner angesagt bei Eltern, denen weder eine Note noch ein Lehrer behagt. Deren Briefe haben dann in etwa folgenden Wortlaut: «Sehr geehrte Schulleitung, mit der Benotung der Deutscharbeit meines Sohnes (Note Sechs) bin ich überhaupt nicht einverstanden. Ich beantrage, dass Sie eine objektive Nachkorrektur durch eine unabhängige Fachkraft anordnen …» Oder: «Mein Sohn fühlt sich angesichts der jeweils halben Seite, die er zu den Fragen zwei, drei und vier geschrieben hat, mit Note Fünf absolut ungerecht bewertet …» Oder: «Außerdem erwarte ich, dass Sie der Klasse meines Sohnes im zweiten Halbjahr einen anderen Mathematiklehrer zuweisen …»
Wie oft dergleichen in Deutschlands Schulen täglich geschieht, lässt sich nicht erfassen. Aber es geschieht, und zwar immer häufiger und nicht nur im Rahmen innerschulischer Einwendungen, sondern mit Klagen bis hinauf zu Verwaltungsgerichten.
Eine stichprobenartige Erhebung des Deutschen Lehrerverbandes hat dazu für 2012 in etwa folgendes Bild ergeben: Je nach Verwaltungsgericht liegen pro Jahr zwischen 30 und 120 Klagen vor. Diese richten sich – grob kategorisiert – etwa zur Hälfte gegen Notenentscheidungen, Sitzenbleiben, Nichtzulassung zum Abitur sowie zu je einem Viertel gegen die Nichtaufnahme eines Schülers in eine bestimmte Schule und gegen Disziplinarmaßnahmen der Schule. Längst gibt es Anwälte, die auf Streitereien mit Schulen spezialisiert sind, zum Beispiel wenn es um eine Einzelnote, um die Abiturnote oder um
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