Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Unterrichtsraums fährt, weil es gerade zu regnen begonnen hat, die damit die Schulzufahrt blockiert und die voller Entrüstung auf den Hinweis, solche Taxidienste müssten doch nicht sein, antwortet: «Was ich als sicher für meine Tochter erachte, entscheide immer noch ich!»
Laut Forsa-Umfrage von Ende 2012 macht sich nur jeder zweite deutsche Grundschüler allein auf den Schulweg. 1970 waren es noch 91 Prozent. Etwa die Hälfte aller 6- bis 14-jährigen Heranwachsenden wird nach einer «Mobilitätsstudie» der Universität Essen zur Schule begleitet. Zwanzig Jahre zuvor war es ein Zehntel der Kinder.
Dabei wäre der eigenständige Schulweg gesundheitlich und sozial so wichtig: Die Kinder bewegen sich und pflegen Kontakte. Außerdem sind Kinder, die am Morgen zu Fuß zur Schule gegangen sind, im Unterricht konzentrierter, ruhiger, und sie nehmen aktiver teil. Statt einen spannenden Schulweg zurückzulegen, werden die Kinder zu einer langweiligen Fahrt mit dem Auto gezwungen.
Die Grenzen zwischen Vorsicht und Panik scheinen bei einigen Eltern zu verschwimmen. Durch die Köpfe mancher Eltern geistert womöglich sogar die Angst, ein Kinderschänder könnte dem Kind auflauern. Aber auch das ist maßlos übertrieben: Mehr als 90 Prozent der Fälle von Kindesmissbrauch und Kindesmisshandlung geschehen im nächsten Umfeld der Familie. Von den – für sich gesehen erschreckend vielen – rund einhundert Kindern, die in Deutschland jährlich durch Gewaltverbrechen zu Tode kommen, sind zwei bis drei Opfer eines unbekannten Täters. Auch hat die Zahl der Kindesentführungen nicht zugenommen, zugenommen hat nur das mediale Interesse daran. Der polnische Arzt und Pädagoge Janusz Korczak sagte einmal: «Aus Furcht, der Tod könnte uns das Kind entreißen, entziehen wir es dem Leben. Um seinen Tod zu verhindern, lassen wir es nicht richtig leben.» Diese Warnung passt hierher. Früher gab es außerdem keine Fahrradhelme, weniger Fußgängerampeln, keine Schülerlotsen. Das ist heute anders. Deswegen und trotz eines um das Mehrfache angestiegenen Verkehrsaufkommens ist die Zahl der im Straßenverkehr getöteten Kinder deutlich gesunken. Selbst der Allgemeine Deutsche Fahrradclub konstatierte 2012: «Der Schulweg ist in jeder Hinsicht sicherer als sein Ruf.»
Stattdessen richten Eltern vor den Schultoren oft ein Chaos an, das die Unfallgefahren durchaus erhöht. Vor allem dann, wenn sie falsch parken müssen, um dem Kind den Ranzen zu tragen und noch einmal die Schnürsenkel zu binden. Sie sorgen aber nicht nur für ein Durcheinander vor den Schultoren, sondern machen den Weg zur Schule oft erst gefährlich, weil sie andere zu riskanten Wendemanövern zwingen.
Natürlich gibt es keine allgemeinverbindliche Regel, wann ein Kind alleine in die Schule gehen kann. Das hängt vom Schulweg und der Verkehrstauglichkeit des einzelnen Kindes ab. Aber mit dem Fahrrad zur Schule zu fahren, das sollte beim Übergang von der Grundschule in die weiterführende Schule und nach bestandener Fahrradprüfung Standard sein. Kann ein Kind ohne einen Erwachsenen zur Schule gehen, dann werden es die Eltern sicher noch eine Zeitlang beobachten, um zu sehen, ob es sich im Straßenverkehr vorsichtig genug verhält. Ist der Weg zur Schule zu Fuß wegen der Verkehrslage dennoch nicht zu verantworten und sollten die Eltern nach reiflicher Überlegung das eigene Auto als Taxi nutzen wollen, dann bietet es sich noch immer an, die Kinder besser einige hundert Meter vor der Schule aussteigen zu lassen.
Im Internet findet sich mehrere hundert Mal ein Rundbrief an «Alle vor 1978 Geborenen» – so der Google-Suchbegriff –, dessen Urheber nicht ausfindig zu machen ist. Er sei dennoch nachfolgend in gekürzter Fassung wiedergegeben, weil er mit Augenzwinkern darstellt, wie sich Elternschaft und Kindheit seitdem verändert haben: «Wenn du als Kind in den fünfziger, sechziger oder siebziger Jahren aufgewachsen bist, ist es rückblickend kaum zu glauben, dass du überleben konntest. Als Kinder saßen wir in Autos ohne Sicherheitsgurte und ohne Airbags. Die Fläschchen aus der Apotheke konnten wir ohne Schwierigkeiten öffnen, genauso wie die Flasche mit Bleichmittel. Auf dem Fahrrad trugen wir nie einen Helm. Wir bauten Wagen aus Seifenkisten und entdeckten während der ersten Fahrt den Hang hinunter, dass wir die Bremsen vergessen hatten. Wir blieben den ganzen Tag weg und mussten erst zu Hause sein, wenn die Straßenlaternen angingen. Niemand wusste,
Weitere Kostenlose Bücher