Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
Hintergrund der aufgeheizten Debatte um das Sitzenbleiben ist aber wohl ein ideologischer oder im besten Fall ein naiv idealistischer. Man muss sich nur die Protagonisten dieser Initiative anschauen: Es sind zu erheblichen Teilen Leute, die seit Jahrzehnten für eine Einheitsschule in Deutschland eintreten. Mit der Abschaffung des Sitzenbleibens und im nächsten Schritt mit der Abschaffung der Schulnoten kämen sie ihrem Ziel sehr nahe, denn dann wäre eines Tages das Gymnasium eine Gesamt- und Einheitsschule mit hundertprozentigen Erfolgsaussichten – noch dazu mit einem schönen Namen. Bei anderen Protagonisten, die das Sitzenbleiben abschaffen wollen, herrscht ein idealisiertes Bild von Schülern vor. Man tut so, als sei immer nur das System schuld, wenn jemand nicht vorankommt.
Für Schüler jedenfalls, die am Ende des Schuljahrs in mehreren Kernfächern mangelhafte Leistungen aufweisen, wäre ein Aufstieg in die nächsthöhere Klasse eine krasse Fehlinvestition und ein Bremsfaktor für die Klassengemeinschaft. Für Sitzenbleiber aber ist das Wiederholen eine Chance zur Konsolidierung in neuer Lernumgebung, zur Neuorientierung und zur Stabilisierung der Bildungslaufbahn.
Mit einer Abschaffung des Risikos des Sitzenbleibens gaukelt man den Kindern ein Leistungsvermögen vor, das sie nicht haben. Man schiebt sie wider besseres Wissen bis zur Abschlussprüfung. Humaner wäre es, einem 13-Jährigen zu sagen: «Du wiederholst jetzt ein Jahr, weil es für dich eine Chance ist.» Das ist besser, als ihn bis zur schulischen Abschlussprüfung oder zu einer betrieblichen Einstellungsprüfung zu hieven und dann zu sagen: «April, April, du bist nicht gut genug.»
Eine Abschaffung des Sitzenbleibens ist und bleibt unpädagogisch. Zum Leben gehört das Risiko des Misserfolgs und des Scheiterns. Gäbe es kein Durchfallen mehr, würde sich ein noch größerer Anteil von Schülern – vor allem in der Pubertät – gar nicht mehr anstrengen wollen, und das Leistungsniveau vieler Klassen würde sinken. Es stimmt auch nicht, was immer wieder behauptet wird, nämlich dass Sitzenbleiber ja nur in überschaubaren Bereichen Defizite hätten und diese mit Förderunterricht ausgeglichen werden könnten. Der typische Sitzenbleiber hat aber in der Regel Fünfen und Sechsen in drei, vier, ja fünf Fächern und parallel dazu eine Menge an schwachen Vieren. Bei einem Weiterschieben in die nächsthöhere Klasse würde er – zumal er ja neuen Stoff zu lernen hat – nur noch mehr seinen Niederlagen hinterherlaufen. Unsere Schüler haben von einer solchen Art von um sich greifender Erleichterungspädagogik keinen Nutzen. Ihnen alles aus dem Weg zu räumen und sie über jede noch so kleine schulische Hürde zu heben, das ist der falsche Weg.
«Das mache ich für dich»
Dieselben Kinder, die man durch Förderprogramme gern dressiert, schont man auf der anderen Seite im Übermaß. Ein Kind etwa krankzumelden, weil es gerade keine Lust zum Schulbesuch hat oder weil für den betreffenden Tag das ungeliebte Schwimmen auf dem Programm steht oder weil es sich ungestört auf eine kleine Prüfungsarbeit vorbereiten soll – das ist denn bei aller elterlichen Fürsorge zu viel des Guten.
Man nimmt die Kinder auch sonst immer seltener für irgendetwas in Anspruch, nicht einmal für kleinste häusliche Aufgaben. Die Aussage «Bei uns zu Hause war es nötig, dass ich als Kind richtig mithelfen musste» bejahen von den 60-Jährigen und von den noch Älteren 69 Prozent, von den 16- bis 29-Jährigen dagegen nur 26 Prozent (Quelle: Allensbacher Archiv, IfD-Umfrage 5256, 2009). Laut einer Studie der Deutschen Gesellschaft für Ernährung helfen nur 27 Prozent der 12- bis 15-jährigen Jungs im Haushalt mit, von den Mädchen 39 Prozent. Offenbar gibt es sogar in Zeiten des Gender Mainstreams tendenziell noch gewisse geschlechterstereotype Unterschiede.
Viele Kinder wachsen in einem Schonraum auf, es werden ihnen keinerlei Pflichten zugemutet und viele Aufgaben zu schnell abgenommen. Man sagt, dass die jüngsten Kinder, die Nesthäkchen – sofern sie nicht als Einzelkinder zugleich die ältesten sind –, und die Erstgeborenen am meisten verschont werden. Immer weniger Eltern verlangen von ihren Kindern, dass sie in einem Alter, in dem sie dazu fähig wären, gewisse alltägliche Aufgaben erledigen: beim Tischdecken helfen, den Müll rausbringen, auf kleinere Geschwister aufpassen, Schulranzen oder Sporttasche selbst packen, Schuhe binden, Zimmer
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