Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
NRW, dass sich die Zahl der Abiturienten mit der Note 1,0 von 455 im Jahr 2007 auf exakt 1000 im Jahr 2011 mehr als verdoppelt hat.
Die Hochschulen setzen eine solche Kuschelpolitik mit ihrer Inflation guter und sehr guter Noten fort. Ende 2012 sah sich deshalb der Wissenschaftsrat genötigt, den warnenden Zeigefinger zu erheben. Immerhin war der Anteil der Hochschulabschlüsse – ohne Jura, Medizin und Lehramt – mit den Noten eins und zwei vom Jahr 2000 bis zum Jahr 2011 von 67,8 Prozent auf 76,7 Prozent gestiegen. In den Fächern Biologie und Psychologie hatte sich der entsprechende Anteil auf 98 bzw. 97 Prozent gesteigert. Nur bei den Juristen ging es sehr streng zu. Dort erreichten beim Ersten Juristischen Staatsexamen gerade einmal sieben Prozent der Kandidaten die Noten eins oder zwei.
Bildungseinrichtungen aber, die nur noch gefällige Noten vergeben, betätigen sich als Verschiebebahnhöfe: Die Rückmeldung an Schüler, was sie wirklich leisten können und leisten wollen, wird in die Berufsausbildung oder das Studium verschoben. Die Rückmeldung an Studienabsolventen, ob ihre Zeugnisse etwas wert sind – oder eben noch nicht einmal das Papier, auf dem sie stehen – und ungedeckte Schecks darstellen, wird dem Arbeitsmarkt überlassen.
Ein Professor eines naturwissenschaftlichen Fachs an einer renommierten deutschen Universität berichtete mir, dass es praktisch nicht mehr möglich sei durchzufallen. Die informelle Direktive bei Prüfungen lautet: Geben Sie eine Vier, der Markt wird es dann schon richten und begradigen.
Ohne Sitzenbleiben glücklich?
Die vorläufige Spitze schulpolitischer Verwöhnung ist die nun landauf, landab leidenschaftlich diskutierte Abschaffung des Sitzenbleibens. Der Gipfel der Verwöhnung durch die Schule soll nun also in einigen deutschen Ländern erklommen werden: Kaum hatte die rot-grüne niedersächsische Landesregierung Anfang 2013 ihren Koalitionsvertrag unter Dach und Fach, rauschte es durch den Blätterwald und durch Rundfunk- und Fernsehmagazine: «Niedersachsen schafft das Sitzenbleiben ab.» Begründet wird dieser Plan mit allen möglichen Argumenten. Das Sitzenbleiben koste Zeit, es demütige die Kinder, es sei teuer. Und: In Berlin und Bremen habe man mit einer Schule ohne Sitzenbleiben gute Erfahrungen gemacht. Berlin und Bremen als Vorbilder? Das ist eine ganz neue Wendung.
Überhaupt, warum soll man etwas abschaffen, was es nahezu nicht mehr gibt? Schließlich bleiben von 11,4 Millionen Schülern in Deutschland pro Jahr nur 170000 sitzen. Das sind 1,5 Prozent. Offenbar wollen gewisse Kräfte sogar noch für diese 1,5 Prozent eine schulische Hundert-Prozent-Erfolgsgarantie. Im Übrigen ist die Quote an Sitzenbleibern in den letzten Jahren deutlich gesunken. Weil die 16 deutschen Länder schöne Bilanzen vorlegen und Millionen potenzieller Wähler, nämlich Eltern, besänftigen wollen, wurden die Regeln für das Sitzenbleiben weitgehend liberalisiert. Selbst in vergleichsweise strengen deutschen Ländern kann man mit mehrmals Note Fünf auf Probe vorrücken oder sich einer Nachprüfung stellen.
Das Sitzenbleiben ist auch keineswegs ein Stigma oder Trauma. Die Wiederholer sind in den neuen Klassen oft genug die Stars, weil sie älter, cooler und frecher auftreten. Nicht selten werden sie zu Klassensprechern gewählt. Und auch sonst kann man es damit – wie Beispiele beweisen – in höchste Ränge der Politik, Wirtschaft, Kultur und Wissenschaft bringen. Zudem hat das Rheinisch-Westfälische Institut für Wirtschaftsforschung (RWI) 2004 in einer Untersuchung von 2500 ehemaligen Schülern der Geburtsjahrgänge 1961 bis 1973 festgestellt, dass die meisten Schüler von einer Ehrenrunde profitieren.
Dass man mit der Abschaffung des Sitzenbleibens deutschlandweit eine Milliarde Euro sparen könne, darf man getrost als eine professorale Berechnung aus dem Elfenbeinturm, in diesem Fall als Ergebnis einer Studie der Bertelsmann-Stiftung, betrachten. Schließlich bezieht sich diese Studie über die Wirksamkeit des Wiederholens auf Untersuchungen aus den 1960er und 1970er Jahren. Und außerdem fragt man sich, warum eine pädagogisch sinnvolle Maßnahme aus ökonomischen Gründen wegrationalisiert werden soll. Es ist eher das Gegenteil der Fall: Eine Klasse zu wiederholen senkt die Wahrscheinlichkeit, dass ein versetzungsgefährdeter Schüler am Ende ohne Schulabschluss dasteht. Das ist ein Gewinn, den man ebenfalls in Milliarden Euro ausrechnen könnte.
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