Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
beschäftigt mit Steckenpferd, Murmel-, Ball- und Tanzspielen.
Eine Schonzeit für Kinder gab es freilich kaum, nur die Kinder der Herrscher und Betuchten gönnten sich diesen Luxus. Spätestens mit sieben Jahren hatten Kinder im Mittelalter ins Erwachsenenleben einzutreten. Die Kindheit ohne Arbeitspflichten war kurz – für Mädchen noch kürzer, weil sie bald in den Haushalt eingebunden wurden. Kinder mussten ran. Als Helfer in der Landwirtschaft, als Arbeiter an Spinnmaschinen und als Kohlenschlepper im Bergbau. Auch für die Absicherung der Eltern gegen Krankheit und als Versorgung im Alter waren sie wichtig. Das Leben von Eltern und Kindern war eins, eine institutionalisierte Erziehung wie Kindergarten oder Schule gab es noch nicht. Immerhin kamen ab Mitte des 19. Jahrhunderts in England und in Deutschland staatlicherseits erste Einschränkungen der Kinderarbeit in Fabriken, das brachte Erleichterungen. Diese galten aber nur für Fabriken. Für Heimarbeit galt das im Deutschen Reich erst ab 1903. Für Arbeit in der Landwirtschaft sogar erst ab 1960.
Von solchen äußeren Rahmenbedingungen abgesehen, ist die Betrachtung von Kindheit sehr disparat. Die beiden großen und meistzitierten Historiographen der Geschichte der Kindheit sind Philippe Ariès mit seinem Buch «Geschichte der Kindheit» (1960 erschienen, 1975 ins Deutsche übersetzt) und Lloyd de Mause mit seinem Werk «Hört ihr die Kinder weinen – Eine psychogenetische Geschichte der Kindheit» (1980). Beide sind sich allerdings nicht ganz einig.
Ariès analysierte für seine Kindheitsanalysen neben Memoiren und Briefen vor allem die bildende Kunst – in Familienporträts oder Grabbildnissen. Er sieht Kinder im Mittelalter und in der frühen Neuzeit als behütet an. Dann aber sei das Kind des Mittelalters in das hilflose Kleinkind der Neuzeit bzw. des 20. Jahrhunderts verwandelt worden. Dieser Wandel habe seinen Niederschlag in der «Familialisierung» und in der «Scolarisation» gefunden, wobei die Schule Zwangsinstitution und Schutzraum zugleich gewesen sei. Für Ariès begründen diese Entwicklungen die Anfänge einer Leidenszeit der Kinder. Kinder seien aus einer ganzheitlichen Lebenswelt herausgedrängt und ausgegrenzt worden. Er meint ferner: «Während das Kind der traditionellen Gesellschaft glücklich war, weil es die Freiheit hatte, mit vielen Klassen und Altersstufen zu verkehren», wurde zu Beginn der Neuzeit ein besonderer Zustand «erfunden», eben der der Kindheit. Diese «Erfindung» habe zu einer tyrannischen Vorstellung von der Familie geführt, die die Zerstörung von Freundschaft und Geselligkeit zur Folge hatte und den Kindern nicht nur ihre Freiheit nahm, sondern sie zum ersten Mal mit Rute und Karzer bekannt machte. Ariès sieht die Geschichte der Kindheit also eher als Verfallsgeschichte. Früher sei das Kind frei, gleichberechtigt und integriert zugleich gewesen und ab sieben Jahren wie erwachsen behandelt worden.
Lloyd de Mause kommt zu anderen Wertungen. Für ihn ist die Geschichte der Kindheit ein Albtraum: Je weiter man in die Geschichte zurückgehe, desto unzureichender werde die Pflege der Kinder und desto größer die Wahrscheinlichkeit, dass Kinder getötet, ausgesetzt, geschlagen, gequält und sexuell missbraucht wurden. De Mause ist der Meinung, dass die Kindererziehung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit hart, gleichgültig und lieblos gewesen sei. Auch Hugh Cunningham (2006) setzt sich von Ariès ab. Nach Cunningham hätten sogar in der Antike und im Mittelalter die Mütter um ihre gestorbenen und geschundenen Kinder geweint. Schließlich stellten auch etliche zeitgenössische Sozialhistoriker die Thesen von Ariès in Frage. Linda A. Pollock zum Beispiel kam nach der Auswertung von Tagebüchern und Autobiographien, die zwischen 1500 und 1900 von Eltern verfasst wurden, zum Schluss: Im Gegensatz zu Ariès gab es im 16. Jahrhundert durchaus ein Konzept von Kindheit.
Eine Vorstellung von Kindheit als Phase sui generis war aber wohl doch erst ab 1800 entstanden, und dies zunächst nur in bürgerlichen Kreisen. Norbert Elias schreibt 1980 von einer «Zivilisierung der Eltern», er datiert sie allerdings schon ab dem 16. Jahrhundert. Wörtlich nennt er den neuen Umgang mit Kindern einen «Zivilisationsschub» und einen «Schub an Demokratisierung». Ab 1800 spielte bei der Entstehung eines neuen – idealisierten – Bildes von Kindheit ferner die deutsche Romantik eine Rolle, und zwar durchaus im Sinne
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