Helikopter-Eltern: Schluss mit Förderwahn und Verwöhnung (German Edition)
wird es nicht gelingen, unsere Kultur zu erhalten.» Dieses Lamento hat 5000 Jahre auf dem Buckel. Wenig ergiebig in Sachen Kindheit und Erziehung ist das Alte Testament. Man findet dort viel über Kinderopfer, über strikten Gehorsam, über die Liebe der Kinder zu den Eltern und über ihre Rolle als Träger des Familiennamens – aber kaum Hinweise auf kindliche Bedürfnisse.
Mit den Kindern hart ins Gericht gehen die ersten beiden ganz großen griechischen Philosophen. Für Sokrates gilt: «Die Schüler lieben heute den Luxus, sie haben schlechte Manieren, verachten Autorität, verfügen über keinen Respekt vor älteren Leuten und plaudern, wo sie arbeiten sollten. Sie verschlingen bei Tische die Speisen, legen die Beine übereinander und tyrannisieren ihre Eltern.» Und besonders kritisch sieht Platon 375 Jahre vor Christus sowohl die Jugend als auch den Umgang der Erwachsenen mit ihr in seiner «Politeia»: « Wenn sich Väter daran gewöhnen, ihre Kinder einfach gewähren und laufen zu lassen, wie sie wollen, und sich vor ihren erwachsenen Kindern geradezu fürchten; oder wenn Söhne schon sein wollen wie die Väter, also ihre Eltern weder scheuen noch sich um ihre Worte kümmern, sich nichts mehr sagen lassen wollen, um ja recht erwachsen und selbständig zu erscheinen; wenn die Lehrer bei solchen Verhältnissen vor ihren Schülern zittern und ihnen lieber schmeicheln, statt sie sicher und mit starker Hand auf einem geraden Weg zu führen, sodass die Schüler sich nichts mehr aus solchen Lehrern machen; wenn es überhaupt schon so weit ist, dass sich die Jüngeren den Älteren gleichstellen, ja gegen sie aufgetreten sind mit Wort und Tat, die Älteren sich aber unter die Jungen stellen und sich ihnen gefällig zu machen versuchen, indem sie ihre Albernheiten und Ungehörigkeiten übersehen oder gar daran teilnehmen, damit sie ja nicht den Anschein erwecken, als seien sie Spielverderber oder auf Autorität versessen; wenn auf diese Weise die Seele und die Widerstandskraft der Jungen allmählich mürbe wird; wenn sie aufsässig werden und es schließlich nicht mehr ertragen können, wenn man nur ein klein wenig Unterordnung von ihnen verlangt; wenn sie am Ende dann auch die Gesetze verachten, weil sie niemand und nichts mehr als Herrn über sich anerkennen wollen, so ist das der schöne und jugendfrohe Anfang der Tyrannis.»
Die These, Kindheit sei eine Erfindung der letzten zwei Jahrhunderte, erscheint dennoch kaum haltbar. In den Werken der griechischen und römischen Antike, in den Schriften des ersten großen Erziehers der Neuzeit, Comenius, werden sowohl die Unterschiede zwischen Kindern und Erwachsenen als auch die Unterschiede zwischen den einzelnen Entwicklungsstufen der Kindheit anerkannt.
Deshalb ist es fragwürdig, wenn in Teilen der neueren Geschichtsschreibung so getan wird, als sei Kindheit eine Erfindung der neuesten Zeit. Natürlich gab es die spartanische Erziehung, die für den Stadtstaat Kämpfer heranzüchten sollte. Aber es gab zumindest eine Idee von Kindheit, freilich nur gültig für die Kinder von Herrschenden – von den Pharaonenkindern bis hin zum heranwachsenden Alexander dem Großen, der Aristoteles als Lehrer hatte.
Das Verhältnis von Eltern und Kind war nicht immer liebevoll. Oft schob man – wenn man es sich leisten konnte – die Kinder bis hinein in die beginnende Neuzeit zu Ammen ab. Wohlhabende Römer holten sich gebildete Sklaven aus Griechenland für die Bildung ihrer Kinder. Aber noch lange wurden Kinder wie eine Wegwerfware behandelt. Sie wurden wie Romulus und Remus – die sagenhaften Gründer Roms – ausgesetzt oder als Maßnahme der Geburtenkontrolle getötet. Erst im Jahr 374 nach Christus gab es ein Gesetz, das die Tötung von Kindern verbot. Die Rechte über die Kinder hatte in Rom trotzdem noch lange der Vater. Er entschied, ob er ein Kind annimmt. Hob der Vater das neugeborene Kind sinnbildlich nicht auf, zum Beispiel weil es mit Missbildungen oder Behinderungen auf die Welt kam, dann hatte es kaum Überlebenschancen.
Viele Jahrhunderte lang gab es keinen originären Begriff von Kindheit. Wenn Kinder auf mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gemälden dargestellt wurden, dann waren sie wie die Erwachsenen gekleidet. Bis etwa 1700 wurden Kinder wie kleine Erwachsene betrachtet – sogar das Jesuskind. Es gibt aber auch Gemälde, zum Beispiel von Pieter Bruegel Mitte des 16. Jahrhunderts, auf denen Kinder als Spielende dargestellt wurden –
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