Helix
das Lenkrad, als die Nase des Jeeps in die Dunkelheit tauchte. Es war wie die Einfahrt in einen Tunnel. Ich hatte die Scheinwerfer nicht eingeschaltet. Schemenhaft sah ich Felsen, verfaulte Balken und Granitschichten vorüberfliegen. Ich schrie nicht.
In den letzten Tagen habe ich versucht, mich an alles zu erinnern, was ich noch über Kelly Dahl aus der Zeit wusste, als sie im sechsten Schuljahr war, doch das meiste ist nicht mehr sehr klar. Ich habe fast sechsundzwanzig Jahre lang unterrichtet, sechzehn davon in der Grundschule und noch einmal zehn an der Highschool. Namen und Gesichter verschwimmen. Das lag aber nicht daran, dass ich damals ein starker Trinker war. Kelly war in meiner letzten sechsten Klasse, und damals hatte ich kein Problem mit dem Alkohol. Probleme hatte ich – aber keins mit dem Alkohol.
Ich weiß noch, wie ich Kelly Dahl am ersten Tag wahrgenommen habe. Jeder Lehrer, der das Salz in der Suppe wert ist, bemerkt die Unruhestifter, die Außenseiter, die Streber, die Klassenclowns und all die anderen Typen, die es in Schulklassen gibt, auf den ersten Blick. Kelly Dahl passte in keine dieser Kategorien, aber eine Außenseiterin war sie ganz sicher. Körperlich war nichts Ungewöhnliches an ihr – mit elf Jahren verlor sie gerade den Babyspeck, der aus ihrer Kindheit noch übrig war, ihr Knochenbau setzte sich allmählich im Gesicht durch, ihr Haar war etwa schulterlang und braun, ein wenig strähniger als bei ihren sorgfältig geföhnten oder mit Zöpfen geschmückten Mitschülerinnen. Genau genommen wirkte Kelly Dahl sogar ein wenig verwahrlost und ärmlich. Ein Anblick, den wir Lehrer Mitte der Achtzigerjahre auch im reichen Boulder County nur allzu oft zu sehen bekamen. Die Kleidung des Mädchens war oft zu klein, selten sauber und wies häufig die vielsagenden Falten auf, die ein Kleidungsstück bekommt, wenn es am Morgen hastig aus dem Wäschekorb oder dem Schrank gezerrt wird. Wie gesagt, war ihr Haar selten gewaschen und wurde normalerweise von billigen Plastikspangen gehalten, die sie vermutlich schon seit dem zweiten Schuljahr trug. Ihre Haut hatte den fahlen Ton eines Kindes, das zu viele Stunden drinnen vor dem Fernseher verbringt. Später sollte ich allerdings erfahren, dass das auf Kelly Dahl nicht zutraf. Sie war in dieser Hinsicht einzigartig – ein Kind, das nie ferngesehen hatte.
Nur wenige meiner Annahmen über Kelly Dahl trafen zu.
Am ersten Tag meines letzten sechsten Schuljahrs fielen mir vor allem ihre Augen auf – verblüffend grün, erschreckend intelligent und überraschend wach, wenn sie sich gerade nicht hinter gespielter Langeweile verbarg oder den Blick abwandte, sobald sie aufgerufen wurde. Ich erinnere mich noch genau an ihre Augen und an den leicht überheblichen Tonfall, an die leise Stimme des elfjährigen Mädchens, als ich sie an diesem ersten Schultag einige Male aufrief.
Ich weiß auch noch, dass ich am Abend ihre Akte gelesen habe. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, die Akten der Schüler niemals zu lesen, bevor ich nicht die Kinder selbst gesehen hatte. In ihre Akte schaute ich vor allem, weil Kellys präzise Diktion und der leicht ironische Tonfall so gar nicht zu ihrem Äußeren passen wollten. Den Unterlagen zufolge wohnte Kelly Dahl in einem Wohnwagenpark westlich der Eisenbahnstrecke. Diesem Trailer Park hatte unsere Schule den Löwenanteil aller Probleme zu verdanken. Sie lebte dort mit ihrer Mutter und ihrem Stiefvater. Ein gelber Warnzettel aus dem zweiten Schuljahr wies die Lehrer darauf hin, dass Kellys leiblicher Vater zunächst noch das Sorgerecht gehabt hatte. Doch dann wurde es ihm gerichtlich entzogen, weil es Gerüchte über Missbrauch gegeben hatte. Ich sah auf dem Blatt nach, das ein Sozialarbeiter des County ausgefüllt hatte, und wenn ich zwischen den Zeilen der bürokratischen Formulierungen richtig las, musste ich davon ausgehen, dass die Mutter das Kind nicht haben wollte, sich jedoch der Entscheidung des Gerichts gefügt hatte. Der leibliche Vater war gern bereit gewesen, das Mädchen abzugeben. Offenbar hatte es eine Auseinandersetzung gegeben, weil keiner das Sorgerecht wollte. »Nimm du sie, ich muss mich um mein eigenes Leben kümmern« – viele meiner Schüler hatten so etwas erlebt. Die Mutter hatte also verloren und blieb auf Kelly sitzen. Der gelbe Warnzettel enthielt den üblichen Hinweis, dass das Mädchen das Schulgelände nicht mit dem leiblichen Vater verlassen dürfe. Sie durfte auch nicht ans Telefon
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