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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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mich, ob sie jetzt vollständig durchgedreht war.
    »Ich bin nicht vollständig durchgedreht, Mr. Jakes. Aber ich stehe kurz davor. Jedenfalls haben die Leute das gedacht … als noch Leute da waren.«
    Ich blinzelte. »Liest du meine Gedanken, Kelly?«
    »Aber klar.«
    »Wie denn?«, fragte ich. Vielleicht war ich bei meinem Selbstmordversuch nicht gestorben, sondern lag in diesem Augenblick mit einem Hirnschaden im Koma und träumte mir diesen Unsinn irgendwo in einem Krankenzimmer zusammen. Oder am Grund des Lochs.
    »Mu«, sagte Kelly Dahl.
    »Wie bitte?«
    »Mu. Kommen Sie schon, Sie können mir doch nicht erzählen, dass Sie das vergessen haben.«
    Ich erinnerte mich. Ich hatte es auf der Highschool unterrichtet … nein, es waren die Sechstklässler in jenem Jahr gewesen, als Kelly bei mir war … das chinesische Wort mu. Auf einer Ebene bedeutet mu einfach nur »ja«, doch auf einer tieferen Ebene des Zen wurde es oft von einem Meister benutzt, wenn der Schüler eine dumme, nicht zu beantwortende oder in die Irre führende Frage stellte wie etwa: »Besitzt ein Hund die Buddha-Natur?« Der Meister sagte daraufhin nur mu, was so viel bedeutete wie: Ich sage »ja« und meine »nein«, doch die wahre Antwort ist: Entfrage die Frage.
    »Okay«, sagte ich. »Dann erkläre mir, warum ich gefesselt bin.«
    »Mu«, sagte Kelly Dahl. Sie stand auf und baute sich vor mir auf, die Flammen spiegelten sich auf der Messerklinge.
    Ich zuckte mit den Achseln, obwohl das angesichts der Fesseln eine nicht eben anmutige Bewegung war. »Na schön.« Ich war gefesselt und hatte Angst, ich war desorientiert und wütend. »Dann eben nicht.« Wenn du meine Gedanken lesen kannst, du gottverdammte Neurotikerin, dann lies das hier. Ich stellte mir einen hochgereckten Mittelfinger vor. Setz dich drauf und dreh dich.
    Kelly Dahl lachte. Im sechsten Schuljahr hatte ich sie nicht oft lachen hören, im elften überhaupt nicht. Und was ich jetzt hörte, war genau der Laut, den ich bei jenen seltenen Gelegenheiten gehört hatte – wild, aber nicht völlig verrückt, angenehm, aber zu aggressiv, um noch freundlich genannt zu werden.
    Wieder hockte sie sich vor mich hin und hielt mir die Messerspitze vor die Augen. »Sind Sie bereit für das Spiel, Mr. Jakes?«
    »Was für ein Spiel?« Mein Mund war auf einmal sehr trocken.
    »Ich werde einige Dinge verändern«, sagte Kelly Dahl. »Möglicherweise gefallen Ihnen manche Veränderungen nicht. Um mich aufzuhalten, müssen Sie mich finden und mich daran hindern.«
    Ich leckte mir über die Lippen. Das Messer hatte während ihrer kleinen Ansprache nicht geschwankt. »Was meinst du damit, dass ich dich aufhalten soll?«
    »Mich aufhalten. Mich töten, wenn Sie können. Mich daran hindern.«
    Oh, verdammt … das arme Mädchen ist verrückt.
    »Kann sein«, sagte Kelly Dahl. »Aber das Spiel wird Spaß machen.« Sie beugte sich vor, und einen irren Augenblick lang dachte ich, sie wolle mich küssen, doch sie schob die flache Klinge unter die Seile und zog. Knöpfe sprangen auf. Ich spürte die kalte Stahlspitze an der Kehle, als das Messer zur Seite glitt.
    »Vorsicht …«
    »Sch-scht«, machte Kelly Dahl und küsste mich tatsächlich, ganz leicht, während ihre Hand rasch von links nach rechts glitt und die Seile zerschnitt, als benutze sie ein Skalpell.
    Als sie sich zurückzog, sprang ich auf … nein, ich wollte aufspringen, doch meine Beine waren eingeschlafen. Ich stürzte nach vorn, wäre beinahe ins Feuer getorkelt, fing mich unbeholfen mit Armen und Händen ab, die ebenso gefühllos waren wie die Scheite, die ich im Feuer liegen sah.
    »Verdammt«, sagte ich. »Verdammt, Kelly, das ist nicht sehr …« Ich hockte auf den Knien und drehte mich zu ihr um, wandte mich vom Feuer ab.
    Ich sah, dass das Lagerfeuer auf einer Anhöhe inmitten einer Lichtung aufgebaut war. Ich kannte die Gegend nicht, aber wir befanden uns offenbar nicht in der Nähe der Stelle, an der ich in den Schacht gefahren war. In der Dunkelheit machte ich ein paar Felsblöcke aus, über den Kiefern sah ich die Milchstraße. Mein Jeep war etwa zwanzig Schritte entfernt geparkt. Ich konnte keine Schäden erkennen, aber es war ja dunkel. Wind war aufgekommen, und die Kiefernzweige bewegten sich leicht. Die Nadeln dufteten würzig, und der Wind seufzte leise.
    Kelly Dahl war verschwunden.
     
    Als ich noch in der Lehrerausbildung war – ich hatte gerade den Dienst bei der Army quittiert und war noch nicht sicher, warum ich

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