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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gerufen werden, wenn er anrief, und falls er dabei erwischt wurde, dass er sich auf dem Schulgelände herumtrieb, sollte ihr Lehrer oder die entsprechende Aufsichtsperson den Schulleiter verständigen und/oder die Polizei rufen. Viel zu viele unserer Schüler hatten solche gelben Warnhinweise in den Akten.
    Eine offenbar von Kellys Lehrer aus der vierten Klasse hinzugefügte Notiz wies darauf hin, dass ihr »richtiger Vater« im vergangenen Sommer bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei, man könne den gelben Zettel daher ignorieren. Und unten auf der getippten Stellungnahme des Sozialarbeiters fand ich noch eine gekritzelte Ergänzung, wonach Kelly Dahls »Stiefvater« in Wahrheit unverheiratet mit der Mutter zusammenlebe. Er sei auf Bewährung draußen, nachdem er in Arvada einen Supermarkt ausgeraubt habe.
    Also eine ziemlich normale Akte.
    Doch an der kleinen Kelly Dahl war nichts Normales. In den letzten Tagen, als ich mich an unser Verhältnis während des nur sieben Monate dauernden Schuljahres und an die acht Monate auf der Highschool zu erinnern versuchte, wunderte ich mich, wie eigenartig diese gemeinsame Zeit gewesen war. Manchmal kann ich mich kaum an die Namen der Sechstklässler erinnern, an die bedrückten Gesichter und die krummen Rücken der Schüler, aber Kelly Dahls schmales Gesicht, die ausdrucksvollen grünen Augen und ihre leise Stimme blieben hängen – ironisch mit elf, sarkastisch und herausfordernd mit sechzehn. Vielleicht war Kelly Dahl, nachdem ich sechsundzwanzig Jahre lang Hunderte von Elfjährigen, Sechzehnjährigen, Siebzehnjährigen und Achtzehnjährigen unterrichtet – eigentlich eher ertragen – hatte, meine einzige wirkliche Schülerin gewesen.
    Jetzt lauerte sie mir also auf. Und ich ihr.

2
PENTIMENTO
     
    Die Wärme der Flammen weckte mich. Ich zuckte zusammen und spürte noch das Gefühl des Fallens – ich erinnerte mich an den letzten bewussten Moment, als ich mit dem Jeep in die Grube gefahren war und in die Schwärze stürzte. Ich wollte die Arme heben und wieder das Lenkrad packen, doch meine Arme waren hinter mir festgebunden. Ich saß auf etwas Hartem, nicht auf dem Sitz im Jeep. Auf dem Boden. Bis auf die flackernden Flammen direkt vor mir war alles dunkel. Die Hölle?, dachte ich, doch ich mochte dieser Hypothese keinen Glauben schenken, nicht einmal für den Fall, dass ich tot war. Außerdem gehörten die Flammen, die ich sehen konnte, zu einem großen Lagerfeuer. Der Steinring war deutlich zu erkennen.
    Ich hatte Kopfschmerzen, und mein ganzer Körper zitterte und schmerzte nach dem Schwindel erregenden Absturz, als säße ich immer noch in dem stürzenden Jeep. Ich versuchte, die Lage einzuschätzen. Ich war im Freien, saß auf dem Boden und trug noch die Sachen, die ich bei meinem Selbstmordversuch getragen hatte. Es war dunkel, ein großes Lagerfeuer knisterte sechs Fuß entfernt direkt vor mir.
    »Scheiße«, sagte ich laut. Mein Kopf und mein Körper schmerzten, als hätte ich einen Kater. Da habe ich es wohl schon wieder vermasselt. Hab mich volllaufen lassen und alles vermasselt. Ich habe mir nur eingebildet, ich sei in die Grube gefahren. Verdammt!
    »Nein, Sie haben es nicht vermasselt«, sagte eine leise, helle Stimme hinter mir in der Dunkelheit. »Sie sind wirklich in den Schacht gefahren.«
    Ich erschrak und wollte mich zu der Sprecherin umdrehen, aber ich bekam den Kopf nicht weit genug herum. Jetzt erst bemerkte ich die Seile, die sich auf meiner Brust spannten. Man hatte mich irgendwo festgebunden, vielleicht an einem Baumstumpf oder einem Felsblock. Ich versuchte, mich zu erinnern, ob ich diese letzten Gedanken über das Trinken und meinen vermasselten Selbstmordversuch laut ausgesprochen hatte. Ich hatte unerträgliche Kopfschmerzen.
    »Das war eine interessante Art, sich umzubringen«, sagte die Frau. Ich war sicher, dass es eine Frau war. Außerdem kam mir die Stimme unangenehm bekannt vor.
    »Wo sind Sie?«, fragte ich. Meine Stimme schwankte. Ich drehte den Kopf so weit wie möglich, konnte aber in der Dunkelheit hinter mir nicht mehr als eine rasche Bewegung erkennen. Ich saß vor einem niedrigen Felsblock. Fünf Seilschlingen waren um meine Brust und um den Fels gelegt. Ein weiteres Seil hielt meine Handgelenke hinter dem Stein fest.
    »Wollen Sie nicht lieber fragen, wer ich bin?«, erwiderte die seltsam vertraute Stimme. »Und zunächst einmal diesen Punkt klären?«
    Ich schwieg einen Moment. Die Stimme und der leicht spöttische

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