Helix
Tonfall, der darin mitschwang, erschienen mir so bekannt, dass ich sicher war, die Besitzerin auch ohne weitere Hinweise zu erkennen, wenn mir noch etwas Zeit blieb. Jemand hatte mich also betrunken im Wald gefunden und festgebunden. Aber warum hatte sie mich gefesselt? Maria war so etwas zuzutrauen, doch sie befand sich mit ihrem neuen Ehemann in Guatemala. Es gab ehemalige Geliebte, die mich hassten und fähig waren, mich zu fesseln und im Wald auszusetzen – oder Schlimmeres –, aber zu keiner passte diese Stimme. Andererseits war ich in den letzten ein, zwei Jahren neben so vielen eigenartigen Frauen aufgewacht … Und wer sagte eigentlich, dass ich diese Person tatsächlich kannte? Es sprach einiges dafür, dass mich irgendeine verrückte Frau im Wald aufgelesen hatte. Sie hatte festgestellt, dass ich betrunken und möglicherweise gewalttätig war – wenn ich sturzbesoffen bin, schreie ich laut und sage Gedichte auf –, und hatte mich gefesselt. Bis dahin klang es noch nach einer vernünftigen Erklärung – abgesehen davon, dass ich mich nicht erinnern konnte, so viel getrunken zu haben, und dass sich mein schmerzender Kopf und mein Körper nicht nach einem Kater anfühlten. Warum also sollte mich eine Frau fesseln wollen, selbst wenn sie verrückt war? Im Übrigen konnte ich mich ja daran erinnern, dass ich tatsächlich mit dem Jeep in diesen verdammten Schacht gefahren war.
»Geben Sie auf, Mr. Jakes?«, sagte die Stimme.
Mr. Jakes. Dieser vertraute Tonfall. Eine ehemalige Schülerin … Ich schüttelte den Kopf. Das Nachdenken tat weh. Es war schlimmer als die Kopfschmerzen bei einem Kater, anders, viel intensiver.
»Sie dürfen mich Roland nennen«, erwiderte ich mit belegter Stimme. Ich starrte in die Flammen und versuchte, zu mir zu kommen, nachzudenken.
»Nein, das geht nicht, Mr. Jakes«, sagte Kelly Dahl. Sie kam ins Licht und hockte sich zwischen mir und dem Feuer auf den Boden. »Sie sind Mr. Jakes. Ich darf Sie nicht anders nennen. Außerdem ist Roland ein blöder Name.«
Ich nickte. Ich hatte sie auf den ersten Blick erkannt, auch wenn es sechs oder sieben Jahre her war, dass ich sie zum letzten Mal gesehen hatte. In der Highschool hatte sie die Haare blond gefärbt und wie eine Punkerin eine Art kurzen Irokesenschnitt getragen. Die Haare waren immer noch kurz und ungleich geschnitten, und unter dem falschen blonden Haar sah man es dunkler nachwachsen, aber eine Punkerin war sie nicht mehr. Die Augen, früher groß und strahlend, wie man es bei einem elfjährigen Mädchen erwarten konnte, hatten später, mit siebzehn, den stumpfen Glanz der Drogenabhängigkeit gezeigt. Jetzt waren sie einfach nur groß. Die dunklen Ringe unter den Augen, die auf der Highschool einfach zu ihr gehört hatten, waren verschwunden, aber im Licht des Feuers mochte der Eindruck täuschen. Sie war nicht mehr ganz so eckig und dürr, wie ich sie von der Highschool in Erinnerung hatte, nicht mehr hager und bis auf die Knochen abgemagert, als fräße sie das Koks oder das Crack oder was sie auch genommen hatte von innen her auf, doch sie war immer noch dünn, und man musste schon genau hinsehen, um die Brüste zu erkennen und sie als Frau zu identifizieren. Sie trug Jeans und Arbeitsstiefel, ein lockeres Flanellhemd über einem dunklen Sweatshirt und ein rotes Kopftuch. Der Feuerschein gab den Wangen und der Stirn einen rosigen Schimmer. Das kurze Haar ragte unter dem Kopftuch hervor und hing ihr über die Ohren. In der rechten Hand wog sie lässig ein großes Fahrtenmesser, während sie vor mir kniete.
»Hi, Kelly«, sagte ich.
»Hi, Mr. Jakes.«
»Willst du mich nicht losmachen?«
»Nein.«
Ich zögerte. Keine Spur von dem scherzenden Ton war mehr in ihrer Stimme zu hören. Wir waren zwei Erwachsene, die sich unterhielten, sie Anfang zwanzig und ich irgendwo über fünfzig, kurz vor dem Hundertsten.
»Hast du mich gefesselt, Kelly?«
»Ja.«
»Warum?«
»Das werden Sie in ein paar Minuten erfahren, Mr. Jakes.«
»Okay.« Ich versuchte, mich zu entspannen, und lehnte mich an den Stein, als sei ich daran gewöhnt, mit dem Jeep in ein Loch zu fahren und Auge in Auge mit einer früheren Schülerin aufzuwachen, die mich mit dem Messer bedrohte. Bedroht sie mich überhaupt mit dem Messer? Es war schwer zu sagen. Sie hielt es locker, aber wenn sie mich nicht befreien wollte, gab es kaum einen Grund dafür, es in der Hand zu halten. Kelly war schon immer aufbrausend, exzentrisch und instabil gewesen. Ich fragte
Weitere Kostenlose Bücher