Helix
die Überbringer erinnern uns unermüdlich daran, dass sie uns das Lied überhaupt nicht gebracht haben. Sie haben uns nur gelehrt, es zu hören.
Ich weiß nicht, wie oder warum ich überlebte, während alle anderen den Tod fanden. Theoretisch kann man an der Oberfläche einer Schneelawine schwimmen, aber die Realität sah so aus, dass keiner von uns die leiseste Chance hatte, etwas Derartiges auch nur zu versuchen. Die Wand aus Schnee und Stein, eine halbe Meile breit, spülte über uns weg und zog uns nach unten und spuckte nur mich wieder aus – die Gründe mag der K2 allein wissen, und vielleicht kennt nicht einmal er sie.
Sie fanden mich nackt und zerschunden mehr als eine Dreiviertelmeile von der Stelle entfernt, an der wir vor der Lawine weggelaufen waren. Gary, Paul und Kanakaredes wurden nie gefunden.
Die CMG-Einsatzwagen waren binnen drei Minuten zur Stelle. Wahrscheinlich hatten sie ständig bereitgestanden, um jederzeit eingreifen zu können. Aber nach einer zwanzigstündigen Suche mit Tiefensonden und Sonar, als die Marines und die Beamten gerade daran dachten, notfalls das untere Drittel des Gletschers abzuschmelzen, um die Leichen meiner Freunde zu bergen, untersagte der Sprecher Aduradake – der, wie sich herausstellte, zugleich Kanakaredes’ Vater und Mutter war – jede weitere Suche.
»Lasst sie dort, wo sie sind«, sagte er zu den nervösen UN-Beamten und den stirnrunzelnden Marine-Colonels. »Sie sind zusammen auf Ihrer Welt gestorben, und sie sollten auch hier auf Ihrer Welt zusammen liegen. Ihr Teil des Liedes erklingt jetzt vereint.«
Eine Woche später begann das Lied, oder es wurde zum ersten Mal gehört.
Ein Assistent der Außenministerin kommt zu mir heraus, entschuldigt sich ausgiebig, weil ich warten musste – Außenministerin Bright Moon war beim Präsidenten –, und führt mich in ihr Büro. Dort bleibe ich mit dem Assistenten stehen, und wir warten.
Ich habe schon Fußballspiele auf Plätzen gesehen, die kleiner waren als dieses Büro.
Die Ministerin kommt eine Minute später durch eine andere Tür herein und führt mich nicht zu dem unbequemen Stuhl vor ihrem riesigen Schreibtisch, sondern zu zwei Sofas, die einander zugewandt sind. Sie setzt sich mir gegenüber, bietet mir Kaffee und Erfrischungen an, was ich ablehne, entlässt ihren Assistenten mit einem Nicken und bringt noch einmal ihr Mitgefühl angesichts des Todes meiner lieben Freunde zum Ausdruck. Sie hat an der Totenfeier teilgenommen und die Ansprache des Präsidenten gehört. Sie plaudert noch eine Minute darüber, wie erstaunlich das Leben nun sei, da das Lied uns alle verbindet, und dann stellt sie mir einige Minuten lang höfliche, einfühlsame Fragen über meine körperliche Genesung (vollständig), meine seelische Verfassung (erschüttert, aber es wird besser), sie fragt nach dem großzügigen Stipendium, das ich von der Regierung erhalten habe (bereits investiert), und nach meinen Zukunftsplänen.
»Das ist der Grund dafür, dass ich um diesen Termin gebeten habe«, sage ich. »Es gab da ein Versprechen, den Olympus Mons besteigen zu dürfen.«
Sie starrt mich an.
»Auf dem Mars«, füge ich überflüssigerweise hinzu.
Außenministerin Betty Willard Bright Moon nickt und lehnt sich in die Polster zurück. Sie zupft eine unsichtbare Fluse von ihrem navyblauen Rock. »Ach das«, sagt sie. Ihre Stimme ist freundlich wie zuvor, aber man hört auch eine Spur jener Schärfe, die sie bei unserem Treffen auf dem Dach der Welt an den Tag gelegt hat und an die ich mich so gut erinnern kann. »Die Überbringer haben bestätigt, dass sie dieses Versprechen einlösen wollen.«
Ich warte.
»Haben Sie sich schon entschieden, wer Ihre nächsten Berggefährten sein sollen?«, fragt sie. Dabei zückt sie einen unverschämt teuren, mikrodünnen Palmlog aus Platin, als müsse sie sich Notizen machen, um meine extravaganten Wünsche befriedigen zu können.
»Ja«, sage ich.
Jetzt war es an ihr zu warten.
»Ich will Kanakaredes’ Bruder haben«, sage ich. »Sein … seinen Krippenbruder.«
Betty Willard Bright Moon sperrt vor Schreck beinahe den Mund auf. Ich glaube nicht, dass sie in den letzten Jahren in zähen Verhandlungen schon einmal auf diese Weise reagiert hat, weder als knallharte Akademikerin in Harvard noch in der letzten Zeit als Außenministerin. »Sie meinen es ernst«, sagt sie.
»Allerdings.«
»Wollen Sie sonst noch jemanden außer dieser Wanz … außer diesem
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