Helix
Süden liegt das Durcheinander der überlappenden Gipfel und gewundenen Gletscher, die zum Karakorum gehören. Ich kann den perfekten Gipfel des Nanga Parbat erkennen, den Gary, Paul und ich vor sechs Jahren bestiegen haben, etwas näher auch die Gasherbrums. Zu unseren Füßen, buchstäblich zu unseren Füßen, ist der Broad Peak. Wer hätte gedacht, dass sein Gipfel aus dieser Höhe so breit und flach wirkt?
Wir vier liegen auf dem schmalen Gipfel, zwei Fuß vor dem Steilabfall im Norden. Ich halte Kanakaredes weiter fest, scheinbar, um ihn zu stützen, doch in Wirklichkeit stütze ich uns beide.
Der Mantispa klickt, zischt und quietscht. Er schüttelt den Schnabel und versucht es noch einmal. »Es … es tut mir leid«, keucht er. Es zischt, wenn die Luft durch die Atemlöcher in seinem Schnabel streicht. »Ich … ich muss fragen, was die Tradition jetzt gebietet. Gibt es eine Art Zeremonie für diesen Augenblick? Ein Ritual?«
Ich werfe einen Blick zu Paul, dessen Lebensgeister allmählich wieder erwachen. Dann blicken wir zu Gary.
»Versuche, es nicht zu vermasseln, und vermeide es möglichst, zu sterben«, sagt Gary keuchend. »Beim Abstieg sterben mehr Bergsteiger als beim Aufstieg.«
»Heldenfotos«, schnauft Paul. »Wir brauchen … Heldenfotos.«
Unser Alien nickt. »Hat … hat jemand … einen Fotoapparat dabei? Eine Kamera? Ich habe keine.«
Gary, Paul und ich sehen einander an, klopfen auf die Anoraktaschen und lachen. In dieser Höhe klingt Gelächter wie das Husten eines Seehundes.
»Also keine Heldenfotos«, sagt Gary. »Aber wir sollten die Flaggen ausrollen. Auf den Gipfel bringt man immer eine Flagge mit. Das ist das Motto der Menschen.« Die lange Rede macht Gary so benommen, dass er eine Minute lang den Kopf zwischen die angezogenen Knie stecken muss.
»Ich habe keine Flagge«, sagt Kanakaredes. »Die Lauscher haben niemals eine Flagge.« Jetzt geht die Sonne ernstlich unter, die letzten Strahlen sind im Westen hinter einer Gebirgskette zu sehen. Das rötliche, orangefarbene Licht steht noch auf unseren dummen, lächelnden Gesichtern und Handschuhen und Schutzbrillen und den mit Eis überkrusteten Anoraks.
»Wir haben auch keine Flagge dabei«, sage ich.
»Das ist gut«, meint K. »Dann brauchen wir also nichts weiter zu tun?«
»Wir müssen nur noch lebend da runterkommen«, sagt Paul.
Wir stehen zusammen auf, winken ein wenig, helfen einander, uns aufzurichten, nehmen unsere Eisäxte, die wir in den Schnee auf dem Gipfel getrieben haben, und kehren über das lange Schneefeld in die Schatten zurück.
Godwin-Austen-Gletscher, etwa 17.300 Fuß
Für den Abstieg haben wir nur viereinhalb Tage gebraucht, und darin ist sogar ein Tag Rast im alten Camp Drei am unteren Ende der steilen Traverse enthalten.
Das Wetter hat sich die ganze Zeit über gehalten. Unser Hochlager – Camp Sechs unter der Eismauer – haben wir erst um drei Uhr morgens nach der erfolgreichen Gipfelbesteigung erreicht. Da kein Wind wehte, waren unsere Spuren im Schnee erhalten geblieben. Wir konnten sie sogar im Schein der Lampen erkennen, niemand glitt aus, und niemand stürzte oder bekam Frostbeulen.
Nach der Rast bewegten wir uns schneller. Am folgenden Tag brachen wir schon kurz nach der Morgendämmerung auf, um Camp Vier am oberen Ende der steilen Traverse noch vor Einbruch der Dunkelheit zu erreichen … und bevor die Götter des K2 es sich anders überlegten und einen Sturm schickten, der uns in der Todeszone festhielt.
Der einzige Zwischenfall im unteren Bereich des Berges ereignete sich seltsamerweise auf einem relativ leichten Abschnitt eines verschneiten Hangs unterhalb von Lager Zwei. Wir vier suchten uns ohne Seil einen Weg den Hang hinunter, jeder in seinen Gedanken verloren und in dem gar nicht unangenehmen, erschöpften Dämmerzustand, der sich am Ende einer Besteigung so häufig einstellt, als K auf einmal ausrutschte. Vielleicht war er über eins seiner Hinterbeine gestolpert, auch wenn er das später bestritt. Jedenfalls landete er flach auf dem Bauch oder besser auf der Unterseite seines oberen Körpersegments. Er streckte alle sechs Gliedmaßen von sich, die Eisaxt flog durch die Luft, und er begann zu rutschen. Die ersten paar hundert Yards sahen nach einer eher harmlosen Rutschpartie aus, wäre da nicht die Klippe gewesen, unter der, tausend Fuß tiefer, der Gletscher lag.
Glücklicherweise war Gary etwa hundert Fuß vor uns. Er hackte seine Axt ins Eis, schlang sich eine
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