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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Leine um den Körper und zweimal um die Axt, schätzte Kanakaredes’ Rutschpartie genau ein und ließ sich selbst auf dem Bauch den Hang hinuntergleiten. Mit einer Hand packte er Kanakaredes’ drei Finger so elegant wie ein Trapezkünstler. Das Seil spannte sich mit einem Knall, die Axt hielt, Mensch und Mantispa schwangen zweieinhalb Mal hin und her wie das Pendel einer Standuhr, und damit war das Drama beendet. K musste am nächsten Tag den Rest des Weges bis zum Gletscher ohne Eisaxt schaffen, aber er kam gut zurecht. Jetzt wissen wir auch, wie eine Wanze zeigt, dass sie verlegen ist – die Höcker am Hinterkopf verfärben sich dunkelorange.
    Als wir endlich vom Grat herunter waren, seilten wir uns zum Gletscher ab und entschieden einstimmig, nahe der Ostflanke des K2 nach unten zu gehen. Der letzte Schneesturm hatte alle Gletscherspalten verdeckt, und wir hatten seit zweiundsiebzig Stunden keine Lawinen mehr gehört oder gesehen.
    In der Nähe der Wand gab es weit weniger Gletscherspalten, doch eine Lawine konnte uns an jeder Stelle des Gletschers treffen. Es war nicht ungefährlich, in der Nähe der Wand zu laufen, aber dort konnten wir den Bereich, in dem Lawinen drohten, erheblich schneller hinter uns bringen. In der Mitte des Gletschers zu gehen und ständig nach Gletscherspalten zu suchen, hätte doppelt so lange gedauert.
    Wir hatten zwei Drittel des Rückwegs geschafft – die hellroten Zelte des Basislagers waren draußen auf dem Fels hinter dem Eis schon deutlich zu erkennen –, als Gary sagte: »Vielleicht sollten wir uns mal über diesen Deal mit dem Olympus Mons unterhalten, K.«
    »Ja«, klickte und zischte unsere Wanze. »Ich habe mich schon die ganze Zeit darauf gefreut, über diesen Plan zu reden, und ich hoffe, es ist vielleicht …«
    Wir hörten es, bevor wir es sahen. Mehrere Güterzüge schienen von oben zu uns herabzudonnern. Von oben, von der Flanke des K2.
    Wir blieben wie angewurzelt stehen und versuchten, das Schneegestöber zu erkennen, das den Weg der Lawine kennzeichnete. Wider alle Vernunft hofften wir, die Lawine werde weit hinter uns auf dem Gletscher niedergehen. Aber keine Viertelmeile über uns löste sie sich von der Bergflanke, sprang über den Bergschrund und wurde schneller und schneller. Sie kam direkt auf uns zu. Es sah aus wie ein weißer Tsunami. Das Brüllen war ohrenbetäubend.
    »Lauft!«, rief Gary, und wir rannten bergab, ohne an bodenlose Gletscherspalten zu denken. Es war uns egal, und wir versuchten, obwohl es unmöglich war, einer Wand aus Schnee und Eis und Felsblöcken zu entgehen, die sich mit sechzig Meilen in der Stunde in unsere Richtung bewegte.
    Ich weiß noch, wie wir mit den letzten Resten unserer Spinnenseide – es waren Stücke von sechzig Fuß Länge – unsere Bergsteigergeschirre aneinandergehakt haben. Das spielte für Gary, Paul und mich aber keine Rolle, weil wir mit ungefähr der gleichen Geschwindigkeit in die gleiche Richtung rannten. Allerdings habe ich später Mantispa mit voller Geschwindigkeit rennen sehen – sie bilden mit den Händen ein zusätzliches Paar flacher Füße und benutzen dann alle sechs Beine –, und ich weiß jetzt, dass K einen Gang zulegen und viermal schneller als wir hätte laufen können. Vielleicht hätte er sogar der Lawine entwischen können, weil uns nur ihr südlicher Rand erfasste. Vielleicht.
    Er versuchte es nicht. Er schnitt das Seil nicht ab. Er rannte mit uns.
    Der südliche Rand der Lawine erwischte uns, hob uns hoch und zog uns hinunter, zerriss das unzerreißbare Kletterseil aus Spinnenseide und warf uns hoch und drückte uns wieder hinunter, spülte uns getrennt in das Feld von Gletscherspalten am unteren Ende des Gletschers.
     
     
    Washington, D.C.
     
    Drei Monate nach diesem Tag saß ich im Wartezimmer der Außenministerin. Ich hatte genug Zeit gehabt, über alles nachzudenken.
    Wir alle – alle auf dem Planeten, sogar die Wanzen – waren in den letzten paar Monaten mit dem Lied beschäftigt gewesen, das begonnen und seither an Komplexität und Schönheit zugenommen hatte. Seltsam ist, dass uns das Lied überhaupt nicht ablenkt. Wir arbeiten und reden, wir essen und sehen HDTV, wir lieben uns und schlafen, aber im Hintergrund, wann immer jemand lauschen will, ist das Lied zu hören.
    Es ist unglaublich, dass wir es noch nie auf diese Weise gehört haben.
    Niemand nennt sie mehr Wanzen oder Mantispa oder Lauscher. Alle nennen sie in jeder Sprache nur noch die Überbringer des Liedes.
    Doch

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