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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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darunter das gekrümmte, gewellte Band des Godwin-Austen-Gletschers und noch weiter dahinter eine unklare Erinnerung an das Basislager und an Lebewesen – Flechten, Krähen, ein Grasbüschel, wo der Gletscher schmilzt. Zu beiden Seiten erstreckt sich das Karakorum. Weiße Gipfel ragen wie Reißzähne auf, ferne Berge verschmelzen mit dem Himalaja, und ein einsamer Gipfel – ich bin zu benommen, um den Namen zu erraten – hebt sich einsam und hoch vor dem Himmel ab. Die roten Berge Chinas brennen ein paar hundert Meilen weiter im Norden in der dichten, atembaren Atmosphäre.
    »Okay«, sagt Gary. Er tritt vom Fels auf das Schneefeld.
    Er versinkt bis zur Hüfte im weichen Schnee.
    Irgendwie hat Gary noch genug Luft, den Schnee mit Flüchen über alle möglichen Gottheiten einzudecken, die hier so tiefen Schnee haben fallen lassen. Er macht einen weiteren Schritt hinauf und nach vorn.
    Der Schnee wird immer tiefer. Gary versinkt bis fast zu den Achselhöhlen. Er hackt mit der Eisaxt auf den Schnee ein, schlägt mit den Überhandschuhen nach dem Schnee. Das Schneefeld und der K2 ignorieren ihn.
    Ich knie auf dem abschüssigen Felssims nieder und stütze mich auf die Eisaxt. Es ist mir egal, ob die anderen mein Schluchzen hören oder ob die Tränen meine geöffneten Augenlider festfrieren. Die Expedition ist vorbei.
    Kanakaredes zieht langsam seine Körpersegmente die letzten zehn Fuß des Kamins herauf, vorbei an Paul, der sich an einem Stein übergibt, vorbei an der Stelle, an der ich niedergekniet bin, bis zur letzten festen Fläche vor Gary, der noch im Schnee steckt.
    »Ich übernehme eine Weile die Führung«, sagt Kanakaredes. Er schiebt den Eispickel in den Gürtel. Sein Protothorax rutscht etwas tiefer. Seine Hinterbeine kommen zum Vorschein. Die Arme oder Vorderbeine werden nach unten und nach vorn gedreht.
    Kanakaredes wirft sich wie ein Olympia-Schwimmer, der vom Startblock springt, auf das steile Schneefeld. Er fliegt an Gary vorbei, der bis zu den Achseln im weichen Schnee steckt.
    Die Wanze – unsere Wanze – schlägt mit den Unterarmen auf den Schnee ein, teilt ihn mit den zusammengelegten Fingern, drückt ihn mit dem gepanzerten oberen Körpersegment zusammen und schwimmt, mit allen sechs Beinen rudernd, durch den Schnee.
    Lange kann er das nicht machen. Es ist unmöglich. Kein Lebewesen hat so viel Energie und Willenskraft. Bis zum Gipfel geht es sieben- oder achthundert Fuß beinahe senkrecht bergauf.
    K schwimmt und tritt und rudert fünfzehn Fuß den Hang hinauf. Fünfundzwanzig. Dreißig.
    Ich stehe auf und spüre einen pochenden Schmerz in den Schläfen. Ich sehe unsichtbare Bergsteiger rings um mich. Geister, die in den Schmerzen und der Verwirrung der Todeszone gefangen sind. Ich schiebe mich an Gary vorbei und schleppe mich nach oben. Ich folge der Spur, die K gelegt hat, ich wühle und schwimme durch die aufgebrochene Schneebarriere nach oben.
     
     
    Gipfel des K2, 28.250 Fuß
     
    Wir betreten zusammen und Arm in Arm den Gipfel. Alle vier. Der höchste Grat auf dem Gipfel ist gerade groß genug, um uns aufzunehmen.
    Viele Achttausender haben überhängende Schneewechten. Nach all der Anstrengung macht der Bergsteiger endlich den letzten Schritt und will seinen Triumph auskosten und stürzt eine Meile oder mehr in den Abgrund. Wir wissen nicht, ob der K2 eine überhängende Spitze hat. Wie viele andere Bergsteiger sind wir zu erschöpft, um uns darüber Gedanken zu machen. Kanakaredes kann nicht mehr gehen und nicht mehr stehen, nachdem er mehr als sechshundert Fuß weit für uns die Spur durch das Schneefeld gelegt hat. Gary und ich tragen ihn die letzten hundert Fuß, unsere Arme unter seine Insektenarme geschoben. Ich stelle erschrocken fest, dass sein Gewicht kaum der Rede wert ist. All die Energie, all dieser Mut, und doch wiegt K wahrscheinlich nicht mehr als hundert Pfund.
    Der Gipfel hat keinen Überhang, wir stürzen nicht.
    Das Wetter hat sich gehalten, doch die Sonne geht unter. Die letzten Strahlen wärmen uns durch die Anoraks und Thermohäute. Der Himmel ist blau, aber dunkler als weiter unten. Ein viel tieferes Blau als Topas, erheblich dunkler auch als ein Aquamarin. Vielleicht ist es ein Blauton, für den es einfach kein Wort gibt.
    Wir können die Erdkrümmung sehen. Zwei Gipfel ragen weit entfernt über den gekrümmten Horizont hinaus, die Eisfelder am Gipfel glühen orange im Sonnenuntergang. Wahrscheinlich stehen die Berge irgendwo im chinesischen Turkestan. Im

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