Helix
Kosmos. Die Kindheit der Menschheit endet hier … die kleinen Nationen, die kleinen Kriege, die kleinen Hassgefühle, die kleinen Diktatoren, die kleinen Freiheiten … alles endet hier.«
Nitschewo lächelte. »Es wird natürlich dort oben auch noch Nationen und Kriege und Hassgefühle und Diktatoren und Freiheiten geben … nur größer werden sie sein. Viel größer. Alles wird größer sein, wenn unsere Spezies das neue Meer erobert, um niemals zurückzukehren.«
»Was meinen Sie damit, dass wir Erinnerungen hätten?«, fragte Roth. »Wie können wir Erinnerungen an einen Ort haben, den die meisten von uns noch nie gesehen haben und den sie niemals sehen werden?«
»Der Kosmos, das Universum, in dem es keine Schwerkraft gibt, das Reich jenseits unseres kleinen schweren Steinhaufens, das ist die wahre rodina«, sagte Nitschewo. Jetzt lächelte er nicht mehr. »Das wahre Mutterland. Die UdSSR ist eine traurige Erinnerung, doch unsere rodina lebt in uns weiter. Genau wie die Erinnerung an die rodina des Kosmos weiterlebt. Wir träumen davon, im Mutterschoß zu schweben, wir träumen von der Freiheit vor der Geburt und vielleicht auch von jener nach dem Tod. Unsere Spezies sehnt sich danach, in diesem neuen Meer zu schwimmen.«
Wieder deutete Nitschewo nach oben.
»Es ist alles da, dieses neue Meer, der Ozean des Kosmos. Ein paar haben den Strand der Flammen und der Angst schon überwunden und sind dort geschwommen … ein paar sind auf dem Weg dorthin oder bei der Rückkehr ertrunken … aber die meisten sind wohlbehalten heimgekehrt. Wohlbehalten, aber verstummt. Wir haben keine Dichter geschickt, keine Künstler und keine Philosophen.« Er lächelte wieder. »Keine … Lumpensammler.« Das Lächeln verschwand. »Aber wir müssen unsere Meere speisen.«
»Unsere Meere speisen?«, fragte Vasilisa und übersetzte ihre Frage für Roth.
»Wir müssen die Meere speisen«, wiederholte der alte Mann. »Wenn der erste Mann und die erste Frau der Menschheit in diesem neuen Meer des Kosmos begraben sind, dann können wir sagen, dass wir heimgekehrt sind, heim in unsere neue rodina.«
Sie bedankten sich bei ihm, Vasilisa umarmte ihn zum Abschied, und dann traten sie in den Gang vor dem Bunker. Es war spät, sie mussten wieder nach Hause fliegen. Auch Roth hatte sich mehrmals bei dem alten Mann bedankt und die paar Brocken Russisch, die er konnte, zusammengekratzt.
»Keine Ursache«, hatte der alte Mann gesagt und mit den verbrannten, vernarbten Fingern zum Abschied gewinkt. »Nitschewo.«
»Ich weiß jetzt, an wen Sie mich erinnern«, sagt Roth am nächsten Morgen beim Frühstück zu Vasilisa.
In der Nacht nach der Reise, nach dem Wodka und den Anspannungen, hat er Schmerzen in der Brust. Er fährt nach Luft schnappend aus einem Traum auf, langt nach den Nitroglyzerintabletten und fragt sich, ob dies die Stunde ist, in der sein Herz für immer zu schlagen aufhört. Es hört nicht zu schlagen auf, doch nach seinem jähen Erwachen erinnert er sich an seinen Traum, er prägt ihn sich ein, und am nächsten Morgen kann er ihn Vasilisa erzählen.
Als Norman Roth elf Jahre alt war, mieteten seine Eltern wie jeden Sommer seit seiner Geburt ein kleines Cottage auf der ruhigen Seite von Long Island. Es war eine Sommerfrische der jüdischen Mittelschicht, und der Junge spielte dort immer allein in der Brandung. Aber in diesem Jahr war das benachbarte Ferienhaus an eine neue Familie vermietet, an die Klugmans, die eine zwölfjährige Tochter hatten.
Normalerweise hätte Norman das Mädchen ignoriert, doch keiner der anderen Jungs befand sich hier auf der Insel, und er fühlte sich einsam. So verbrachte er die Tage mit ihr, mit Sarah – zuerst widerwillig, aber dann voller Freude, weil sich eine echte Freundschaft entwickelte.
Junge und Mädchen, sie kurz vor der Pubertät, er noch einige Jahre davor, spielen zusammen in ausgebleichten Badeanzügen und Shorts, sie schwimmen zusammen, fahren Rad, suchen Muscheln und segeln mit dem kleinen Boot namens Sunbird, das Normans Vater sie benutzen lässt, sie gehen in dem kleinen Dorf gemeinsam ins Kino, sie verkriechen sich an Regentagen in leeren Bootshäusern, liegen in den Dünen und betrachten abends, wenn der Himmel klar ist, die Sterne. Die Badeplattform, die zwanzig Meter vor dem Strand verankert ist, dient ihnen als Treffpunkt, als Clubhaus und Sommersitz.
Mitte August, als das kommende Schuljahr sich schon wie eine dunkle Wolke am Himmel zusammenbraut, sind
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