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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Vasilisa, von dem alten Mann als seine »Feuervogelprinzessin« bezeichnet, während er ihre Wangen tätschelt, erklärt, der Alte werde seit Jahrzehnten nur noch »Nitschewo« genannt. Roth ist überrascht, weil er sich erinnert, dass er dieses Wort fast zwanzig Jahre zuvor bei seinem Besuch in der Sowjetunion schon einmal gehört hat. Es bedeutet »nichts« und fasste damals eine nationale Haltung zusammen, die man als »macht doch nichts« oder als »kann man nichts machen« oder als »lass mich in Ruhe« deuten konnte. An dem Tag, als Roth vor Jahren am Flughafen eingetroffen war, um wieder nach Hause zu fliegen, musste er feststellen, dass an diesem Nachmittag keine Flüge abgingen. Das Reisebüro und die Fluggesellschaft und die Schriftstellergewerkschaft hatten ihm ein Ticket für den falschen Tag ausgestellt. »Nitschewo« war der einzige Kommentar der Angestellten der Fluglinie gewesen.
    Jetzt schenkt also dieser alte Nitschewo Wodka für sie ein. Roth hat von seinem Herzchirurgen die Ermahnung auf den Weg bekommen, jede Art von Alkohol zu meiden, doch er weiß auch, dass anscheinend jede gesellschaftliche Begegnung in Russland mit Wodka geschmiert wird, und deshalb trinkt er zwei Gläser, bevor das Gespräch beginnen kann.
    Die Stimme des alten Mannes ist tief und angenehm, er spricht flüssig, und Vasilisas leise Simultanübersetzung verstärkt das warme Glühen, das Kerosinofen und Wodka erzeugt haben.
    »Sie fragen sich vielleicht, was diese Narben zu bedeuten haben«, beginnt Nitschewo. Er hebt die runzligen Hände zum Gesicht und berührt seinen Hals und das geschmolzene Ohr. »Ich habe mir die Verletzungen im Oktober 1960 nur ein paar hundert Meter entfernt von diesem Ort hier zugezogen. Ich war zweiunddreißig Jahre alt und arbeitete unter der Führung des Ministerpräsidenten Chruschtschow und unter dem Kommando von Marschall Mitrofan Nedelin und dank der Brillanz des Chefkonstrukteurs Korolew für den Ruhm der rodina. Heute bin ich Hausmeister … nein, weniger als ein Hausmeister. Ich bin ein Lumpensammler und Trödler für Energia … aber damals war ich Sergeant und Techniker bei der Raketentruppe. Es war in der Tat eine ruhmreiche Zeit – nein, lächle nicht, meine liebe Vasilisa … es war eine ruhmreiche Zeit. Kennt dein amerikanischer Autor hier unseren Begriff Nascha Lusche? ›Die Unsrigen sind die Besten‹? Tja, damals waren unsere wirklich die Besten, es ist wahr. Wir waren die Ersten, die 1957 einen Satelliten in eine Erdumlaufbahn brachten. Die Ersten, die eine Sonde zum Mond geschickt und die geheimnisvolle Rückseite fotografiert haben. Die Ersten, die einen Hund in eine Umlaufbahn geschossen haben. Die Ersten, die eine Frau hochgeschossen haben. Die Ersten, die auf dem Mars gelandet sind. Die Ersten, die auf der Venus gelandet sind. Die Ersten, die eine Raumstation eingerichtet haben – die alten Saljut- Stationen vor der Mir, meine Liebe. Und wir waren die Ersten, die über Monate oder sogar Jahre hinweg eine bemannte Raumstation unterhalten haben.
    Ach, richtig, die Narben. Ich wollte Ihnen ja von den Narben erzählen.
    Es war im Oktober 1960. Der Chefkonstrukteur hatte eine riesige Rakete produziert, ein wahres Monster von Rakete, die bis zum Mars fliegen sollte. Sie sollte eine Nutzlast zum Mars tragen, ein Stück von der UdSSR zum Mars schaffen, noch bevor ein Mensch überhaupt bis in die Erdumlaufbahn geflogen war. Flüssigtreibstoff. Viele Stufen. Riesige Maschinen. Die VIPs vom Politbüro und von der Roten Armee kamen vorbei. Der Countdown war spannend wie alle Countdowns. Sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins … und dann – nichts.
    Die Rakete hat nicht gezündet. Der Chefkonstrukteur hat mit den Ingenieuren konferiert. Die Ingenieure haben mit den Technikern konferiert. Die Techniker haben mit Gott konferiert. Die Generäle entschieden dann, dass die Rakete ungefährlich sei, dass aber der Treibstoff abgelassen werden und dass sie zerlegt werden müsse, um das Problem zu lösen. Später sollte der Startversuch dann wiederholt werden.
    Die Rekruten und Techniker weigerten sich, die Startrampe zu betreten. Ich weigerte mich nicht, aber meine Kollegen haben sich geweigert. Sie dachten, die Rakete könne explodieren, während der Treibstoff abgelassen wurde, was immer gefährlich ist. Ich dachte, sie seien Feiglinge. Das dachten auch der Chefkonstrukteur und die Generäle. Um zu demonstrieren, dass es sicher war, befahl Marschall Nedelin, auf der Startrampe im

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