Helix
ein Rekrut steuert das Auto. Der Major sitzt vorn und schildert, was sie besichtigen, während Roth mit Vasilisa hinten sitzt. Er kann nur Fragmente ihrer Übersetzung verstehen. Häufig sind es statistische Daten, und zuerst versucht Roth noch, in seinem kleinen Notizbuch mitzuschreiben, doch er verliert rasch den Anschluss, und der Major macht keine Pausen, um Fragen zuzulassen. Schließlich steckt Roth das Notizbuch weg und betrachtet die Reihe von Hangars, Verwaltungsgebäuden, dreckigen Baracken und alten Startrampen mit rissigem Beton und verrosteten Gerüsten. Roth ist überrascht, dass er hier auch Schutthaufen sieht – Raumfahrtmüll –, der auf freien Flächen zwischen den Gebäuden und längs der Straßen gestapelt ist: alte Treibstofftanks, Behälter für die Nutzlast und große Raketenstufen, die, wie Vasilisa ihm erklärt, Bauteile der alten N-1- Mondrakete sind. Sogar die Eisenbahngeleise, die zu den Startrampen führen, sind mit einer dicken Schicht Rost überzogen.
Sie halten vor einem Gebäude, bei dem es sich, wie Vasilisa ihm erklärt, um das Hotel Kosmonaut handelt. Hier haben sich die Mannschaften der Mir und der Saljut unmittelbar vor dem Start aufgehalten. Der Wagen wird abgestellt, der Rekrut hält ihnen die Tür auf, und sie betreten hinter dem Major, der einen laubgrünen Uniformmantel trägt, das Gebäude. Kalter Wind pfeift durch die Risse neben den Fenstern in den leeren Aufenthaltsraum im Erdgeschoss. Der Major zeigt ihnen eine medizinische Abteilung, die Roth an die kleine Krankenstation erinnert, auf der er vor Jahrzehnten eine Woche verbringen musste, als er in Harvard an Diphtherie erkrankte. Schließlich betreten sie im ersten Stock einen Aufenthaltsraum, der anscheinend ihr Ziel ist. Die Wände sind mit Fotos von ernsten Männern mit Fünfuhrbärten bedeckt – allesamt Kosmonauten, wie Vasilisa erklärt –, aber der Major hat sie nicht hierhergeführt, damit sie sich Fotos ansehen.
Neben der Tür ist die Wand vom Boden bis zur Decke mit Unterschriften verziert, die mit Filzstift geschrieben sind. Roth starrt die kyrillischen Buchstaben an und versucht, interessiert zu wirken. Der Major erzählt etwas, sein Tonfall ist voller Verehrung. Vasilisa wiederholt einige Namen der Kosmonauten, doch Roth hat noch nie von ihnen gehört. Pflichtschuldigst hebt er trotzdem seine kleine Digitalkamera, macht ein paar Aufnahmen und nickt. Auch der Major nickt. Sie kehren ins Auto zurück, fahren zum Verwaltungsgebäude, und die Besichtigungstour ist vorbei.
Der Rekrut fährt sie wieder zum Tor. Unterwegs sagt Vasilisa: »Möchten Sie sonst noch etwas sehen? Da ich eine TsUP-Direktorin bin, darf ich Ihnen einige Dinge auf dem Stützpunkt zeigen. Was möchten Sie gern besichtigen, Mr. Roth? Norman?«
»Ich glaube, ich würde gern einen Philosophen sprechen«, sagt Roth.
Vasilisa sieht ihn neugierig an. »Einen Philosophen?«
»Ich versuche, die Gründe hinter all dem zu verstehen«, sagt Roth. Er macht eine ausholende Geste zu dem Komplex aus Startrampen, Hangars, technischen Gebäuden, Eisenbahnstrecken, Landebahnen, verschneiten Feldern und Wohnheimen. »Ich meine nicht die Gründe, die mit dem Wettlauf ins All zu tun haben. Nicht die nationalistischen Beweggründe. Ich meine nicht einmal die Gründe der Kosmonauten, sondern die menschlichen Gründe. Ich glaube, ich brauche einen Philosophen, um das zu verstehen.«
»Einen Philosophen brauchen Sie.« Vasilisa lächelt.
Der alte Mann ist über siebzig, denkt Roth, und er haust in einem Lagerraum im Keller eines Bunkers unter dem brüchigen Beton einer aufgegebenen Startrampe.
Der Raum hat keine Fenster, als Heizung dient ein umgebauter Kerosinofen, auf dem man auch kochen kann. Hunderte von Büchern säumen die Wände. Ein Abschnitt eines Treibstofftanks wurde zu einem Tisch gehämmert, die Stühle sind umgebaute Kosmonautensitze aus alten Sojus- Kapseln, ein aus alten Elektronikteilen zusammengesetztes Radio steht auf einem Werktisch aus Metall und spielt klassische Musik.
Das Gesicht des alten Mannes und seine Arme weisen üble Verbrennungen auf, ein Ohr hat seine Form verloren, und abgesehen von den grauen Stoppeln auf den vernarbten Wangen hat er kein Haar. Das Narbengewebe ist alt und geht in den Falten und Linien des Alters auf. Die Zähne sind ihm zum größten Teil ausgefallen, doch er lächelt mehrmals, während sie einander vorgestellt werden und er Wodka für seine Gäste einschenkt.
Der alte Mann heißt Viktor, aber
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