Helix
mich, dass der Kalte Krieg vorbei war und dass der Stadtrat von Boulder ein paar Jahre vorher aus keinem ersichtlichen Grund einstimmig beschlossen hatte, im Falle eines Krieges die Evakuierungspläne zu ignorieren. Der Stadtrat war für derartige Entscheidungen bekannt – etwa wurde Boulder auch zur atomwaffenfreien Zone erklärt, was wohl bedeutete, dass dort niemals ein Flugzeugträger mit Atomwaffen an Bord festmachen würde. Wahrscheinlich hätte es nicht einmal eine Massenevakuierung gegeben, wenn die sechs Meilen entfernte Atomwaffenfabrik in die Luft geflogen wäre. Der eiserne Kern von Boulders politisch korrekten Bürgern hätte wohl eher gegen die anrückende Strahlung demonstriert, als sich in Sicherheit zu bringen.
Aber wo sind die Leute dann alle? Ich bremste den Jeep ab und fuhr im Schritttempo den Hügel hinunter bis zur Pearl Street. Dort unten gab es eine Fußgängerzone und ein Einkaufszentrum.
Die Fußgängerzone war verschwunden. Keine Bäume, keine künstlichen Hügel, keine geschmackvoll mit Ziegelsteinen gepflasterten Wege, keine Blumenbeete, keine Bettler, keine Hotdogbude von Freddy’s, keine Skateboards, keine Straßenmusiker, keine Drogenhändler, keine Bänke, keine Zeitungsstände, keine Telefonzellen … alles verschwunden.
Das Einkaufszentrum war weg, doch die Pearl Street war noch da. Sie sah aus wie früher, bevor sie mit Ziegelsteinen und Blumenbeeten und Straßenmusikern gepflastert worden war. Ich bog nach links ab, fuhr langsam den leeren Boulevard hinunter und betrachtete die Drugstores, die Bekleidungsgeschäfte und die billigen Restaurants, wo exklusive Boutiquen, Geschenkläden und Häagen-Dasz-Eiscafes hätten sein sollen. Es sah aus wie die Pearl Street, bevor ich Anfang der Siebzigerjahre nach Boulder gekommen war – irgendeine normale Straße in einer normalen Stadt im Westen mit Mieten, die sich die einheimischen kleinen Geschäftsleute leisten konnten.
Schließlich wurde mir klar, dass es tatsächlich die Pearl Street von Anfang der Siebzigerjahre war. Ich fuhr an Freds Steakhouse vorbei, wo Maria und ich gelegentlich mal am Freitag essen gegangen waren, wenn wir genug Geld gespart hatten. Fred hatte das Handtuch geworfen, als er die von den Boutiquen in die Höhe getriebene Miete im Einkaufszentrum nicht mehr zahlen konnte – wann war das gewesen? Mindestens vor fünfzehn Jahren. Und da war auch das alte Art Cinema, in dem Schreie und Flüstern von Ingmar Bergman gelaufen war. Ich wusste nicht mehr genau, wann der Film herausgekommen war, aber ich konnte mich erinnern, ihn irgendwann nach meiner Entlassung aus dem Militärdienst im Jahre 1969 und vor unserem Umzug nach Boulder gesehen zu haben.
Die anderen Anomalien zähle ich gar nicht erst auf – die alten Autos am Straßenrand, die altmodischen Straßenschilder, die Proteste gegen den Krieg auf den Mauern und Stoppschildern –, wie ich mir eine nähere Betrachtung auch an jenem Tag schenkte. Ich wollte so schnell wie möglich zu meiner Wohnung in der 30 th Street und bemerkte dabei kaum, dass die Crossroads Mall am Ende des Canyon Boulevard zwar noch vorhanden, aber erheblich kleiner war, als ich sie in Erinnerung hatte.
Das Gebäude mit meiner Wohnung war überhaupt nicht mehr da.
Eine Weile stand ich aufrecht im offenen Jeep, starrte auf die Felder und Bäume und alten Garagen, wo mein Wohnblock hätte sein sollen, und kämpfte gegen den Drang an, einfach zu kreischen oder zu brüllen. Es ging mir nicht darum, dass meine Wohnung weg war, meine Kleidung oder die wenigen Erinnerungsstücke an das Leben, das ich hinter mir gelassen hatte – ein paar Schnappschüsse von Maria, die ich mir sowieso nie ansah, alte Fußballtrophäen, eine Auszeichnung von 1984 aus der Endrunde für den Titel »Lehrer des Jahres«. Nein, was mich störte, war, dass auch meine Scotchflaschen verschwunden waren.
Dann dämmerte mir, wie albern meine Reaktion war. Ich fuhr zum nächsten Schnapsladen, den ich finden konnte – ein alter Familienbetrieb an der 28 th Street, wo am Tag zuvor noch ein kleines Einkaufszentrum gestanden hatte –, marschierte durch die offene Tür hinein, rief nach den Besitzern, wunderte mich nicht, dass keine Antwort kam, schnappte mir drei Flaschen Johnnie Walker, ließ einen Haufen Geldscheine auf der Theke liegen – ich bin vielleicht verrückt, aber kein Dieb – und ging auf den leeren Parkplatz hinaus, um etwas zu trinken und alles zu überdenken.
Ich muss sagen, dass ich mir keine
Weitere Kostenlose Bücher