Helix
sich drehen konnte, um das spärliche Licht von allen Seiten einzufangen, damit die Photosynthese in Gang blieb. Ich beschrieb, wie die Espen sich von der Wurzel her vermehrten und dass der Espenhain, in dem wir standen, in Wirklichkeit ein einziger riesiger Organismus war. Ich deutete auf die späten Astern und die wilden Chrysanthemen, die sich nur noch wenige Tage halten würden, ehe der Winterwind ihnen bis zum nächsten Frühjahr den Garaus machte, und ich ließ die Kinder nach den herbstlich rot verfärbten Blättern von Fingerkraut, Erdbeeren und Geranien suchen.
In diesem Moment, als die Kinder sich interessiert im Kreis um mich versammelt hatten, deutete Kelly Dahl auf das Laub am Boden und auf die mit Galläpfeln besetzten Zweige, die meine Gruppe gesammelt hatte, und fragte: »Warum müssen wir das alles überhaupt lernen?«
Ich weiß noch, dass ich seufzte. »Meinst du die Namen der Pflanzen?«
»Ja.«
»Ein Name ist ein Instrument der Lehre«, zitierte ich den Leitspruch von Aristoteles, den ich schon viele Male in dieser Klasse benutzt hatte. »Er hilft, die Eigenarten voneinander zu unterscheiden.«
Kelly Dahl nickte knapp und sah mich direkt an. Die einzigartig grünen Augen bildeten einen scharfen Kontrast zu der traurigen Gewöhnlichkeit ihrer im K-Mart gekauften Jacke und der billigen Kordhose. »Aber man kann das doch nicht alles lernen«, sagte sie so leise, dass die anderen Kinder sich vorbeugen mussten, um sie in dem leichten Wind, der aufgekommen war, überhaupt verstehen zu können. Es war eine der seltenen Gelegenheiten, bei denen die ganze Klasse aufmerksam zuhörte.
»Man kann nicht alles lernen«, räumte ich ein, »aber man kann die Natur viel besser genießen, wenn man wenigstens ein bisschen was über sie weiß.«
Kelly Dahl schüttelte den Kopf. Beinahe ungeduldig, wie ich damals dachte. »Sie verstehen es nicht«, sagte sie. »Wenn Sie nicht alles verstehen, verstehen Sie überhaupt nichts. Die Natur ist … sie ist alles. Es ist alles miteinander verflochten. Sogar wir sind ein Teil davon, wir verändern die Natur, wenn wir bloß hier stehen. Wir verändern sie, wenn wir sie zu begreifen versuchen …« Sie unterbrach sich, und ich konnte sie nur anstarren. In den drei Wochen, die dieses Mädchen in meiner Klasse war, hatte sie noch nie so viel auf einmal gesagt wie jetzt. Was Kelly sagte, war absolut richtig, aber meiner Ansicht nach an dieser Stelle weitgehend irrelevant.
Ich überlegte noch, welche Antwort die beste war, damit möglichst alle Kinder etwas daraus lernen konnten, doch Kelly fuhr schon fort. »Ich meine damit«, sagte sie, offenbar ungeduldiger mit ihrer Unfähigkeit, es zu erklären, als mit meinem Unvermögen, sie zu verstehen, »ich meine, wenn man nur ein bisschen was darüber lernt, dann ist das so, als würde man das Bild zerreißen, über das Sie am Dienstag gesprochen haben, diese Frau …«
»Die Mona Lisa«, half ich ihr.
»Yeah. Es ist, als würde man die Mona Lisa in kleine Fetzen reißen und die Stücke herumreichen und erwarten, dass die Leute das Gemälde schön finden und verstehen.« Wieder hielt sie inne und runzelte leicht die Stirn. Ob über die Metapher oder darüber, dass sie überhaupt das Wort ergriffen hatte, war mir nicht klar.
Eine Minute lang waren nur die natürlichen Geräusche des Espenwäldchens und des Biberteichs zu hören. Ich muss zugeben, dass ich verblüfft war. Schließlich sagte ich: »Was sollten wir denn deiner Ansicht nach sonst tun, Kelly?«
Zuerst dachte ich, sie würde überhaupt nicht antworten – sie wirkte, als habe sie sich völlig in sich selbst zurückgezogen. Dann aber sagte sie leise: »Die Augen schließen.«
»Was?« Ich dachte, ich hätte nicht recht gehört.
»Die Augen schließen«, wiederholte Kelly Dahl. »Wenn wir diese Dinge hier ansehen sollen, können wir sie auch mit etwas anderem als mit großen Worten zu verstehen versuchen.«
Ohne ein weiteres Wort schlossen wir die Augen, diese Gruppe von normalerweise sehr unruhigen Sechstklässlern und ich. Ich erinnere mich noch ganz genau, wie intensiv die folgenden paar Minuten waren. Der an Butterscotch und Terpentin erinnernde Geruch vom Harz der Kiefern, die ein Stück hügelaufwärts standen, der leichte Ananasduft der wilden Kamille, die staubige Süße der trockenen Espenblätter im Hain hinter dem Teich, das gleichermaßen süße Aroma der Wiesenpilze Lactarius und Russula, der stechende Tanggeruch der Teichalgen und der reiche Duft der
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