Helix
dem Hauptaltar lag ein in Leder gebundenes Buch aus schwerem Pergament bereit. Ich hob den Band hoch und las:
Ço sent Rollánz que la mort le trespent
Devers la teste sur le quer li descent
Desuz un pin I est alez curanz
Sur l’erbe verte si est suchiez adenz
Desuz lui met s’espree e l’olifant
Turnat sa teste vers la paiene gent.
Es waren französische Verse aus dem elften Jahrhundert. Ich kannte sie vom letzten Jahr auf dem College. Bevor man mich eingezogen und um die Welt geschickt hatte, um kleine Asiaten zu töten, hatte ich einige Monate damit verbracht, diesen Text zu übersetzen.
Dann fühlt Roland, dass der Tod ihn holen will
Vom Kopf stürzt er zum Herz hinab.
Unter einer Kiefer rennt und eilt er dahin
Aufs grüne Gras wirf er sich nieder
Legt Schwert und Olifant unter sich hin
Und wendet das Gesicht zur heidnischen Armee.
Ich legte das Buch weg. »Ist das eine Drohung, Mädchen?«, rief ich ins Dunkel der Kathedrale. Nur das Echo antwortete mir.
Auf der nächsten Seite erkannte ich einen Text von Thibaut aus dem 13. Jahrhundert:
Nus hom ne puet ami reconforte
Se cele non ou il a son cuer mis.
Pour ce m’estuet sovent plaindre et plourer
Que nus confors ne me vient, ce m’est vis,
De la ou j’ai tote ma remembrance.
Pour biens amer ai sovent esmaiance.
A dire voir.
Dame, merci! Donez moi esperance
De joie avoir.
So kann ich nur murmeln und klagen
Da kein Trost mir meinen Kummer nimmt
Wo ich all mein Glück gefunden hatte.
Wo die wahre Liebe war, fand ich nur Schmerz
Traurig ist’s, und wahr.
Habt Mitleid, meine Dame! Gebt mir den Trost
Und gebt mir Hoffnung, irgendwann.
»Kelly!«, rief ich in die Schatten der Kathedrale. »Hör auf mit diesem Unsinn.« Als keine Antwort kam, hob ich die Remington und gab einen Schuss auf das riesige Buntglasfenster mit der Jungfrau Maria hinter dem Altar ab. Der Schuss und das fallende Glas hallten noch hinter mir, als ich das Gebäude verließ.
Das von Hand hergestellte Buch warf ich draußen in den Sand, dann fuhr ich über den Damm zurück.
Als ich nach dem Unfall, bei dem Allan gestorben war, wieder nach Hause zurückkehrte, stellte ich fest, dass Maria das Zimmer unseres elfjährigen Sohns völlig ausgeräumt hatte. Im ganzen Haus gab es keine Fotos und keine Spur mehr von ihm. Seine Kleidung war verschwunden. Die Poster und Fotos, die Utensilien auf dem Schreibtisch, die alten Star-Trek- Modelle, die an schwarzen Fäden an der Decke gehangen hatten – alles war fort. Der Quilt mit dem Schaukelpferd, den sie einen Monat vor seiner Geburt gemacht hatte, war von seinem Bett verschwunden, das Bett war abgezogen und die Wände und der Schrank waren kahl und leer, als sei es ein Zimmer in einem Wohnheim oder in einer Kaserne, wo bald die nächsten Rekruten eintreffen sollten.
Es gab aber keine neuen Rekruten.
Auch aus den Fotoalben hatte Maria alle Bilder von Allan entfernt. Es war, als hätte es seine elf Lebensjahre niemals gegeben. Das Familienfoto, das auf der Kommode im Schlafzimmer gestanden hatte, war ebenso verschwunden wie die Schnappschüsse, die mit Magneten am Kühlschrank geklebt hatten. Ich habe nie erfahren, ob sie die Kleidung, das Spielzeug und die Sportsachen der Heilsarmee gegeben oder ob sie die Fotos verbrannt oder vergraben hat. Sie wollte nicht darüber reden, sie wollte auch nicht über Allan reden. Immer wenn ich darüber sprechen wollte, bekamen ihre Augen einen störrischen, abweisenden Ausdruck. So lernte ich rasch, dieses Thema zu meiden.
Es war der Sommer, nachdem ich mein letztes sechstes Schuljahr unterrichtet hatte. Allan war ein Jahr jünger als Kelly Dahl, er wäre jetzt zweiundzwanzig gewesen, hätte das College abgeschlossen und würde die ersten Schritte in die Welt hinaus machen. Es ist schwer, sich das vorzustellen.
Ich verfolgte sie bis zur Trail Ridge Road, ließ aber den Jeep am Beginn der Tundra zurück. Es gab hier natürlich keine Trail Ridge Road und keine Spuren von menschlicher Besiedlung mehr. Nur die unberührte Tundra erstreckte sich oberhalb der Baumgrenze. Es war bitterkalt, sobald ich den schützenden Wald verlassen hatte. Als ich am Morgen in meinem hoch gelegenen Lager erwachte, hatte ich das Gefühl, es sei schon Spätherbst. Der Himmel war bleischwer, in den Tälern unten hingen Wolken über den Moränen, Ausläufer der Nebelbänke griffen wie Tentakel um die Bergflanken herum. Die Luft war eiskalt. Ich verfluchte mich, weil ich
Weitere Kostenlose Bücher