Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
Vom Netzwerk:
Begeisterung zelebriert wurden, doch es gehörte zu meinem Job als pädagogisches Vorbild und als Englischlehrer, bei diesen verdammten Anlässen irgendetwas zu tun, also verkaufte ich die Tickets. Dadurch konnte ich etwa zwanzig Minuten, nachdem das Spiel begonnen hatte und die Türen geschlossen wurden, wieder verschwinden. Ich weiß noch, wie ich die Sporthalle verließ und in die eiskalte Dunkelheit hinaustrat. Dem Kalender nach war Frühling, doch in Colorado wird das Ende des Winters gewöhnlich erst Ende Mai zur Kenntnis genommen, wenn überhaupt. Draußen sah ich jemanden, den ich kannte, über die Arapaho in die entgegengesetzte Richtung laufen. Kelly Dahl war seit einigen Tagen nicht mehr in der Schule gewesen, und es gab Gerüchte, sie sei umgezogen. Ich wechselte im Dauerlauf auf die andere Straßenseite, wich Flecken von schwarzem Eis aus und holte sie einen Block östlich der Schule unter einer Straßenlaterne ein.
    Sie drehte sich um, als sei sie nicht sonderlich überrascht, mich zu sehen. Fast, als habe sie damit gerechnet, dass ich ihr folgte. »Hey, Mr. Jakes. Was ist los?« Ihre Augen waren stärker gerötet als üblich, das Gesicht verkniffen und bleich. Die anderen Lehrer waren sicher, dass sie Drogen nahm, und widerstrebend war ich schließlich zu der gleichen Ansicht gekommen. In dem hageren Gesicht, das ich an diesem Abend sah, war nichts mehr von dem elfjährigen Mädchen zu sehen, das ich früher gekannt hatte.
    »Bist du krank, Kelly?«
    Sie erwiderte meinen Blick. »Nein, ich bin einfach nicht zur Schule gegangen.«
    »Dir ist doch klar, dass Van der Mere deine Mutter in die Schule bitten wird?«
    Kelly Dahl zuckte mit den Achseln. Ihre Jacke war viel zu dünn für eine so kalte Nacht. Wenn wir sprachen, stand unser Atem wie ein Dunstschleier zwischen uns. »Sie ist weg«, sagte Kelly.
    »Wohin ist sie gegangen?«, fragte ich. Es ging mich nichts an, aber ich machte mir Sorgen um das Mädchen, und die Sorgen schlugen mir auf den Magen.
    Wieder ein Achselzucken.
    »Kommst du denn am Montag wieder in die Schule?«, fragte ich.
    Kelly Dahl verzog keine Miene. »Nein, ich komme nicht zurück.«
    Ich weiß noch, dass ich mir in diesem Moment wünschte, ich hätte nicht im Jahr zuvor das Rauchen aufgegeben. Es wäre ein guter Augenblick gewesen, eine Zigarette anzuzünden und einen Zug zu nehmen, ehe ich weitersprach. So sagte ich nur: »Ach verdammt, Kelly.«
    Das bleiche Gesicht nickte.
    »Sollen wir nicht irgendwo hingehen und darüber reden, Mädchen?«
    Sie schüttelte den Kopf. Ein Auto brummte vorbei und fuhr auf den Schulparkplatz. Nachzügler, die irgendetwas brüllten. Wir drehten uns nicht um.
    »Warum …«, begann ich.
    »Nein«, sagte Kelly. »Sie und ich, wir hatten unsere Chance, Mr. Jakes.«
    Ich runzelte die Stirn und sah sie im kalten Licht der Straßenlaterne an. »Was meinst du damit?«
    Ich war schon sicher, sie wolle überhaupt nichts mehr sagen, sie werde sich jeden Augenblick umdrehen und in der Dunkelheit verschwinden. Aber sie holte tief Luft und atmete langsam wieder aus. »Erinnern Sie sich an das Jahr … an die sieben Monate … als ich in Ihrem sechsten Schuljahr war, Mr. Jakes?«
    »Natürlich.«
    »Erinnern Sie sich, dass ich beinahe den Boden angebetet habe, auf dem Sie gewandelt sind? Verzeihen Sie das Klischee.«
    Jetzt musste ich tief durchatmen. »Hör mal, Kelly, viele Kinder im sechsten Schuljahr, besonders die Mädchen …«
    Sie unterbrach mich mit einer ungeduldigen Handbewegung, als hätten wir nicht genug Zeit für solche Umständlichkeiten. »Ich meinte damit nur, dass ich dachte, Sie seien der einzige Mensch, mit dem ich überhaupt reden konnte, Mr. Jakes. Inmitten von all dem, was geschehen ist … meine Mutter … Carl … Nun ja, ich dachte in diesem verrückten, elenden Winter, Sie seien der vertrauenswürdigste, vernünftigste Mensch im ganzen Universum.«
    »Carl …«
    »Der Freund meiner Mutter«, sagte Kelly leise. »Mein … mein Stiefvater.« Ich hörte die Ironie in ihrer Stimme, aber ich hörte auch noch etwas anderes, das unendlich verzweifelt und traurig klang.
    Ich machte einen kleinen Schritt auf sie zu. »Hat er … war er …«
    Kelly Dahl lächelte schief im kalten Licht. »Oh, yeah. Das hat er. Allerdings. Jeden Tag. Nicht nur in diesem Schuljahr, sondern auch den Sommer vorher.« Sie wandte den Blick ab und starrte zur Straße.
    Ich hätte sie gern in den Arm genommen, denn jetzt sah ich eher das Mädchen als die hagere junge

Weitere Kostenlose Bücher