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Helix

Helix

Titel: Helix Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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mehr vorhanden. »Erzähl es mir«, sagte ich laut, als könnte ich sie damit dazu bringen, mir ihren Standort zu verraten.
    Eigentlich waren es Baue, die von Erdhörnchen gegraben wurden, erklärte ihre leise Stimme mit leicht amüsiertem Unterton. Die Erde ist hier oben so hart und steinig, dass nicht einmal die Würmer Gänge graben können, aber die Erdhörnchen können diese flachen Baue graben. Wenn die Erdhörnchen verschwinden, übernehmen die Wiesenmäuse die Baue. Sehen Sie, wo ihre Füße die Erde weich gemacht haben? Sehen Sie genau hin, Mr. Jakes.
    Ich lag im weichen Moos, das Gewehr scheinbar entspannt vor mir abgelegt, als wäre es mir im Weg gewesen. Aber der Lauf zielte auf die Felsblöcke über mir. Wenn sich dort etwas bewegte, konnte ich in zwei Sekunden darauf anlegen. Ich blickte in einen zusammengebrochenen Erdhörnchenbau. Es sah wirklich ein wenig nach einer von Erdwällen umgebenen Schlittenbahn aus, eine von Hunderten, die sich wie ein offen gelegtes Labyrinth über diesen ganzen Abschnitt der Tundra zogen. Wie eine nicht entzifferbare Schrift, die von Außerirdischen hinterlassen worden war.
    Die Mäuse benutzen diese kleinen Highways im Winter, sagte Kelly Dahl. Unter dem Schnee. Obendrüber sieht man riesige Schneewehen und eine leere, unwirtliche Welt. Aber unter dem Schnee huscht die Maus herum, geht ihren Geschäften nach, sammelt das Gras ein, das sie im Herbst geerntet und gelagert hat, nagt die Mitte der Polsterpflanzen heraus und knabbert an den Pfahlwurzeln. Und irgendwo in der Nähe gräbt noch das Erdhörnchen.
    In der Nähe der Felsblöcke bewegte sich etwas Graues. Ich beugte mich tiefer über den eingebrochenen Gang und war damit dem Gewehr etwas näher. Der Schnee fiel jetzt dichter und wehte über den Permafrostboden wie ein Gazevorhang, der sich abwechselnd hob und senkte.
    Im Frühling, fuhr Kelly Dahls leise Stimme in meinem Kopf fort, tauchen alle diese Erdhörnchentunnel wieder unter dem geschmolzenen Schnee auf. Die Erhebungen bestehen aus subglazialem Sand und sehen aus wie braune Schlangen, die sich überall zu winden scheinen. Sie haben uns gelehrt, dass ein Erdhörnchen hier in einer einzigen Nacht einen Gang von mehr als hundert Fuß Länge graben kann, und in einem Jahr könnte ein Tier bis zu acht Tonnen Erdreich auf einem einzigen Acre bewegen.
    »Das habe ich euch beigebracht?« Die graue Gestalt löste sich von den grauen Felsen. Ich hielt den Atem an und legte den Finger auf die Sicherung.
    Es ist faszinierend, nicht wahr, Mr. Jakes? Es gibt eine sichtbare Winterwelt hier oben auf der Tundra – kalt ist es, unwirtlich, lebensfeindlich –, aber die schutzlosen Tiere erschaffen direkt unter der Oberfläche eine ganz eigene Welt, wo sie überleben können. Sie sind sogar ein wichtiger Bestandteil der Ökologie, denn sie wühlen die Erde auf, sie begraben Pflanzen, die sich unter der Erde besser zersetzen. Es passt alles zusammen.
    Ich beugte mich vor, als starrte ich die Pflanze an, hob mit einer fließenden Bewegung das Gewehr, richtete das Fadenkreuz auf die sich bewegende graue Gestalt und schoss.
    Die graue Gestalt stürzte.
    »Kelly?«, rief ich, als ich keuchend über die Tundra rannte und von einer Solifluktionsterrasse zur nächsten sprang.
    Ich bekam keine Antwort.
    Ich rechnete damit, nichts mehr vorzufinden, als ich die Felsblöcke erreichte, aber sie war genau dort gestürzt, wo ich die letzte Bewegung gesehen hatte. Das arterielle Blut war hell, entsetzlich hell. Die einzige starke Farbe, beinahe schockierend auffällig in der düsteren, grauen Tundra. Die Kugel hatte sie hinter dem rechten Auge getroffen, das offen war und fragend starrte. Die Elchkuh war geschlechtsreif, aber wohl noch nicht ganz ausgewachsen. Schneeflocken setzten sich aufs graue Fell ihrer Flanke, schmolzen auf der rosafarbenen, heraushängenden Zunge.
    Ich holte keuchend Luft, richtete mich auf und fuhr herum, überblickte die Felsen, die Tundra, den tief hängenden Himmel, die Wolken, die wie Gespenster aus den Tälern heraufdrängten. »Kelly?«
    Nur der Wind antwortete mir.
    Ich blickte nach unten. Das glänzende schwarze Auge der Elchkuh wurde stumpf und schien mir eine Botschaft zu übermitteln.
    Man kann hier sterben.
     
    Das letzte Mal hatte ich Kelly Dahl in der realen Welt, in jener anderen Welt, bei einem Basketballspiel gegen Ende der Saison gesehen. Ich hasste Basketball. Ich hasste alle diese albernen und verrückten Sportarten, die auf der Schule mit solcher

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