Helix
den Bereich des Gletschers erreichten, an dem die Wahrscheinlichkeit, auf Spalten zu stoßen, besonders hoch war, blieb uns ohnehin nichts anderes übrig. Es wäre Mord gewesen, Kanakaredes ohne Seil herumlaufen zu lassen.
Eine der ersten Fragen, die uns vor zehn Jahren, als die Wanzen landeten, durch den Kopf gegangen war, hatte gelautet: »Tragen sie eigentlich Kleider?« Inzwischen wussten wir, dass sie keine Kleidung trugen. Ihr eigenartiger Körperbau, ein Exoskelett aus Chitin und verschiedenen Membranschichten über den weicheren Körperteilen, konnte die fehlende Kleidung ohne weiteres ersetzen, aber das bedeutete im Umkehrschluss nicht, dass man jederzeit ihre Sexualorgane sehen konnte. Theoretisch waren die Mantispa sexuelle Wesen mit einem weiblichen und einem männlichen Geschlecht, doch meines Wissens hat noch niemand die Sexualorgane einer Wanze gesehen, und ich kann bezeugen, dass Gary, Paul und ich keinen Wert darauflegten, die Ersten zu sein.
Die Aliens rüsteten sich allerdings im Bedarfsfall mit Werkzeuggürteln oder Geschirren oder was sonst immer aus, weshalb Kanakaredes auch mit diesem komischen Blasenrucksack auf dem Rücken erschienen war, in dem er seine Klettergeräte verstaut hatte. Sobald wir mit dem Aufstieg begonnen hatten, nahm er sein Geschirr aus dem Rucksack und wickelte es sich um das klobige, beinahe gepanzert wirkende obere Körpersegment, an dem seine Arme und die mittleren Beine angesetzt waren. Außerdem benutzte er einen den üblichen Maßen entsprechenden Eispickel, dessen gekrümmten Griff er mit drei knochenlosen Fingern hielt. Es sah seltsam aus, dass diese Wanze mit so alltäglichen Dingen wie roter Nylonleine, Karabinerhaken und Eisaxt hantierte, doch so war er ausgerüstet.
Als wir mit Seilen klettern mussten, hakten wir die Spinnenseide in unsere Karabinerhaken und hängten uns in der gewohnten Marschordnung hintereinander, nur dass ich dieses Mal auf dem Gletscher nicht Pauls langsam wackelnden Arsch vor mir sah, sondern Kanakaredes zuschauen durfte, der etwa zehn Schritt vor mir Stunde um Stunde durchs Eis tappte.
Wenn ich sage, dass er durchs Eis tappte, werde ich seiner Bewegungsweise nicht gerecht. Wir haben ja alle schon gesehen, wie die Wanzen auf den mittleren Beinen das Gleichgewicht halten und laufen können. Mit geradem Rücken können sie auf diesen Beinen aufrecht stehen, und ihr Kopf ist hoch genug, um einem kleinen Menschen ins Auge zu blicken. In dieser Haltung wirken ihre Vorderbeine eher wie echte Arme und nicht mehr so sehr wie die Glieder einer Gottesanbeterin, aber ich glaube, sie tun das meist nur aus eben diesem Grund – um bei ihren seltenen öffentlichen Auftritten menschlicher zu wirken. Bisher hatte ich Kanakaredes jedenfalls nur während der förmlichen Begrüßung im Basislager aufrecht auf zwei Beinen gesehen. Sobald wir über den Gletscher wanderten, nahm er den Kopf wieder herunter, das »V« zwischen dem größten Körpersegment und dem Protothorax wurde größer, und die Spinnenarme wurden ausgestreckt, als hielte ein Mensch zwei Stöcke vor sich. So bewegte er sich scheinbar ohne jede Anstrengung auf vier Beinen.
Aber mein Gott, was war das für eine verrückte Bewegungsweise. Die Beine der Wanzen haben natürlich jeweils drei Gelenke, aber erst nachdem ich dieser Wanze auf dem Godwin-Austen-Gletscher einige Minuten gefolgt war, wurde mir bewusst, dass diese drei Gelenke niemals im gleichen Winkel standen. Eins der Vorderbeine dieser Gottesanbeterin war zweimal abgeknickt, damit Kanakaredes seinen Eispickel in den Hang schlagen konnte, während das andere sich vor und zurück bog, um diesen eigenartigen Schnabel oder sein Maul zu kratzen. Gleichzeitig bewegten sich die mittleren Beine wie die eines Pferdes, nur dass die Beine nicht in Hufe ausliefen. Der unterste, kürzeste Abschnitt jedes Beins besaß vielmehr einen Chitinausläufer, der irgendwie zierlich wirkte. Er war gespalten, und … ich weiß auch nicht, es sah jedenfalls seltsam aus. Und erst die Hinterbeine, die am unteren Rand des Protothorax angewachsen waren … die Hinterbeine ließen mich schwindeln, als ich der Wanze zusah, während sie vor mir durch den weichen Schnee kletterte. Manchmal waren die Knie des Aliens – ich meine die oberen Gelenke, die etwa am Beginn des untersten Drittels der Beine saßen – höher als sein Rücken. Dann wieder beugte er ein Knie nach vorn und das andere zurück, während die unteren Gelenke noch seltsamere Dinge taten.
Nach
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