Helle Barden
Seine Lippen bewegten sich, als er rechnete.
»He!« rief er. »Du schuldest mir… Du schuldest mir das Geld für drei Ratten!«
Lord Vetinari spürte einen Anflug von Scham und Verlegenheit, als sich die Tür hinter Hauptmann Mumm schloß. Der Grund dafür blieb ihm ein Rätsel. Er war zwar ziemlich hart gewesen, aber die besondere Situation erforderte das.
Er nahm einen Schlüssel aus einem Schränkchen neben dem Schreibtisch, trat an die Wand heran und berührte eine Stelle, die sich nicht von anderen Stellen zu unterscheiden schien. Doch man brauchte dort nur ein wenig zu drücken, und eine verborgene Tür schwang an gut geölten Angeln auf.
Niemand kannte alle Wege und Geheimgänge im Palast. Es hieß, daß sich manche von ihnen nicht nur auf das Gebäude beschränkten. Außerdem gab es unter der Stadt viele Gewölbe. Jemand mit einer Spitzhacke und einem guten Orientierungssinn konnte jeden beliebigen Ort erreichen, indem er Löcher in vergessene Mauern schlug.
Lord Vetinari brachte mehrere schmale Treppen hinter sich, trat durch einen Korridor und gelangte schließlich zu einer Tür. Dort schob er den Schlüssel ins Schloß und drehte ihn. Das kleine Portal schwang an ebenfalls gut geölten Angeln auf.
Dahinter lag nicht unbedingt ein Verlies. Der Raum war groß, und durch hohe Fenster fiel genug Licht herein. Es roch nach Holzspänen und Leim.
»Achtung!«
Der Patrizier duckte sich.
Etwas Fledermausartiges summte über ihn hinweg, drehte mitten im Zimmer mehrere Kreise und platzte dann auseinander.
»Schade«, sagte jemand. »Tja, zurück zum Reißbrett. Guten Tag, Euer Lordschaft.«
»Guten Tag, Leonard«, sagte der Patrizier. »Was war das?«
»Ich nenne es ›Fluggerät-mit-schlagenden-Flügeln‹«, antwortete Leonard da Quirm und trat von der Startleiter herunter. »Es funktioniert mit Hilfe von eng zusammengewickelten Guttapercha-Bändern – allerdings nicht sehr gut, fürchte ich.«
Leonard da Quirm war kein sehr alter Mann. Er gehörte zu den Leuten, die schon mit dreißig weise aussahen und sechzig Jahre später immer noch den gleichen Eindruck erweckten. Er war auch nicht in dem Sinne kahlköpfig. Sein Kopf schien
durch
das Haar gewachsen zu sein und wölbte sich darüber wie ein hoher, kuppelförmiger Felsen über wucherndem Dschungel.
Dauernd rasen Inspirationen durchs Universum. Ihr Ziel ist der richtige Kopf zur richtigen Zeit. Wenn sie auf empfangsbereite Neuronen treffen, kommt es zu einer Kettenreaktion. Kurze Zeit später blinzelt jemand im Scheinwerferlicht eines Fernsehstudios und fragt sich verwirrt, wie er auf die Idee gekommen ist, Brot fertig geschnitten zu verkaufen.
Leonard da Quirm wußte über Inspirationen Bescheid. Eine seiner ersten Erfindungen war eine geerdete Schlafmütze aus Metall – er hoffte, damit vor den verdammten Ideen geschützt zu sein, die dauernd sein Bewußtsein quälten. Es klappte nur selten. Meistens fand er morgens nach dem Erwachen diverse nächtliche Notizen, zum Beispiel Zeichnungen neuer Waffen oder erste Entwürfe für Apfelschälmaschinen.
Der Familie da Quirm mangelte es nicht an Geld. Leonard hatte viele gute Schulen besucht. Dort saugte er Wissen auf, trotz seiner Angewohnheit, aus dem Fenster zu starren und Skizzen vom Flug der Vögel anzufertigen. Er gehörte zu jenen unglücklichen Individuen, deren Schicksal es ist, von der Welt und allem Existierenden fasziniert zu sein, die den Dingen ständig auf den Grund gehen wollen, ob es ihnen paßte oder nicht…
Leonard übte seinerseits Faszination aus, zum Beispiel auf Lord Vetinari, was den Umstand erklärte, daß er noch lebte. Wenn man etwas Einzigartiges zerstörte, ging es für immer verloren. Davor schreckte selbst jemand wie der Patrizier zurück.
Leonard war der ideale Gefangene. Wenn man ihm genug Holz, Draht, Farbe sowie Papier und Stifte gab, war er die ganze Zeit über brav.
Lord Vetinari schob einige Zeichnungen beiseite und setzte sich.
»Die sind ausgezeichnet«, sagte er. »Was stellen sie dar?«
»Karikaturen«, erwiderte Leonard.
»Die von dem Jungen, dessen Drachen in einem Baum steckt, ist gut«, stellte der Patrizier fest.
»Danke. Soll ich uns Tee kochen? Ich bekomme nur selten Besuch, abgesehen von dem Mann, der die Türangeln ölt.«
»Ich bin gekommen, um…«
Der Patrizier unterbrach sich und deutete auf eine andere Zeichnung.
»Da klebt ein Stück gelbes Papier dran«, sagte er. Mißtrauen erwachte in ihm. Er zog daran. Das Papier löste sich
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