Hell's Kitchen
dem Gehör und mit dem hilflosen Vertrauen in andere zu suchen, und ich kannte das beklemmende Gefühl, jeden Augenblick mit der Berührung eines Fremden rechnen zu müssen.
Ich vermutete, daß wir die Forty-ninth Street erreicht hatten, als Lionel plötzlich die östliche Böschung der Schlucht hinaufstieg. Er sagte, ich solle mich dicht hinter ihm halten, nach den Stufen und dem Halt tasten, die uns nach oben bringen würden. Und während wir kletterten, spürte ich seinen und meinen warmen Atem, der in der unangenehm feuchten Luft hing wie Atemdunst in der Kälte.
Die Steine und Felsen und sogar die Erde unter unseren Füßen waren glitschig, und mehr als einmal rutschte ich aus und schürfte mir Knie oder Schienbeine auf. Die Wand der
Schlucht, manchmal nur wenige Zentimeter von meinem Gesicht entfernt, stank nach Urin und Rauch und vermodertem Papier. Und meine Hände und Arme streiften die breiigen Überreste toter Ratten und Eichhörnchen - von hungrigen Hunden unter die Brücke gezogen, die ihre Beute nur im Versteck fraßen.
Irgend etwas kreischte und schnappte. Dann wild flatternde Geräusche. »Ein Fledermausnest«, erklärte Lionel. Er hatte mir den Kopf zugewandt, doch ich konnte sein Gesicht nicht sehen, als er sprach. »Wir haben sie aufgescheucht. Du mußt aufpassen, denn die sind tolpatschig wie nur was und knallen in dich rein, wenn sie Angst haben oder verwirrt sind.« Und noch während er das sagte, schlug etwas zuerst gegen meinen Rücken, dann gegen meine Beine. Und ein ekelhaft süßlicher Geschmack schnürte mir den Hals zu.
Ich glaube, ich wäre umgekippt, wenn wir dann nicht endlich einen schmalen Grat erreicht hätten, der von einem Lichtstrahl durch eine Ritze in der Brücke über uns erhellt wurde, ein Spalt entlang des Bürgersteiges an einem Straßenrand. Der Spalt war breit genug, daß ich die Füße einer Frau und neben ihr die eines Kindes Vorbeigehen sehen konnte.
Und Lionel blieb stehen.
Wir standen vor einer kleinen Holzhütte, die, so Lionels Worte, sein trautes Heim, Glück allein war. Er steckte einen Schlüssel in ein Vorhängeschloß und öffnete eine Tür.
Die Hütte war aus Brettern gebaut, die Lionel über die Jahre und eins nach dem anderen in den Dschungel geschleppt hatte. Sie war sicher in einen Spalt im Schiefer gezwängt, dort durch Steine und Matsch und kurze, kräftige Aste verankert. Im Inneren hingen Latten vor schmalen Öffnungen in den Wänden, so daß Lionel in die dunkle Welt unter der Brücke hinausschauen konnte.
Es gab nur diesen einen Raum, ungefähr drei Quadratmeter groß und kaum höher als eins achtzig. Mit drei Petroleumlampen machte Lionel Licht, und er heizte die Hütte, indem er Feuer in einem kleinen, selbstgebauten Ofen machte, dessen Abzug er durch eine Seite der Hütte hinaus und durch den Spalt in der Brücke darüber an die Oberfläche geführt hatte. Das Ofenrohr, das er benutzte, bestand aus den dicken Stahlmantelrohren, die immer wieder aus den Wartungsdepots der U-Bahn oben in Inwood gestohlen werden.
Lionel zog seinen dicken Mantel aus und nahm den Hut ab, und schon bald wurde es so warm in der Hütte, daß er ebenfalls das Hemd aufknöpfte und den Stehkragen ablegte. Und mir wurde bewußt, daß ich ihn noch nicht sehr oft ohne diesen Kragen oder ohne Kopfbedeckung gesehen hatte, genausowenig wie ich den Dingen besondere Aufmerksamkeit geschenkt hatte, die er mir im Laufe der Jahre zu sagen gehabt hatte, nichts über das hinaus, was mir im jeweiligen Augenblick nützlich erschienen war.
Einen Moment lang starrte ich auf seinen buschigen, von Grau durchzogenen Kopf. Ich weiß nicht, woran es liegt, aber alte Männer, die auf der Straße leben, haben die gesündesten Haare, die ich je gesehen habe, selbst wenn sie schmierig oder verlaust oder sonstwie ungepflegt sind. Uns, die wir die Annehmlichkeiten von Häusern genießen, schwinden die Haare.
Ich schätzte Lionel auf etwa siebzig Jahre. Die Falten und die gerundeten Schultern und die flache Brust verrieten mir das. Und die Jahre und ein langes und verlottertes Leben hatten sein Gesicht und seine Hände gebräunt und tiefe Furchen hinterlassen, obwohl ich vermutete, daß er als Kind und junger Mann hellhäutig gewesen war. Ausgefallene Zähne ließen sein Gesicht eingefallen wirken. Er trug ein Gebiß, das allerdings nicht richtig saß. Was wußte ich schon - die Prothese konnte mal irgendeinem anderen gehört haben.
In seiner Wohnung gab es zwei Möbelstücke, die Borde
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