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Hell's Kitchen

Hell's Kitchen

Titel: Hell's Kitchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Adcock
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noch als Leben bezeichnen würde.
    Aber den ganzen Tag denkst du immer wieder und wieder und wieder das gleiche... und du nimmst an, daß die Leute da oben, die mit Wärme und regelmäßigen Mahlzeiten und hin und wieder einem Lachen leben, ein Leben führen, wie du es vielleicht selbst einmal geführt hast... du nimmst an... tja, du nimmst an, daß sie hören können, was hier unten in deinem Kopf aufschreit. Um Himmels willen, natürlich wirst du denken, daß die Leute hören, was du ihnen jeden Tag in deiner Erniedrigung stumm entgegenschreist: Fürchtet uns!«
    Ich spürte, wie sich in mir und über mir und unter mir alles zusammenzog, als Lionel das sagte. Nichts zu verlieren. Durch seine flaschendicke Brille, mit seinen maßlos vergrößerten Augen beobachtete er kühl mein Unbehagen. Fürchtet uns! Seine blassen Augen wurden jetzt leuchtender, nachdem er nun sehen konnte, daß ich anfing, einen Gedanken mit dem anderen in Verbindung zu bringen.
    Eigentum... Sünde... Lügen... Wahrheit... Körperverletzung mit Todesfolge... Mord... Diebstahl... Angst...
    Diebstahl.

23

    Der Himmel war dunstig, und die Sonne ein gelblichweißer Klecks, der ziemlich schnell im Westen verblaßte, als ich Lionels Hütte verließ. Und die Luft fühlte sich an wie so oft an einem Novembertag in New York, wenn die Dämmerung nur noch etwa eine Stunde entfernt ist - wie feuchte Wolle.
    Ich ging mit Lionel die verrosteten Gleise entlang auf die Stelle zu, wo ich wieder »nach oben«, nach Hell’s Kitchen klettern konnte. Und zu den nächsten klebrigen Fußspuren, die ich auf der Spur des Geldes finden konnte.
    Draußen, fort von der Brücke, die Lionels Hütte und Hunderte anderer vor Schnee und Regen schützte, lichtete sich das weite Gebiet des Dschungels mit dem nahenden Einbruch der Dunkelheit. Jetzt schon lagen graue und violette Schatten über dem Dschungel.
    Auf beiden Seiten der Schlucht kauerten kleine Gruppen von Männern und Frauen um Kochfeuer - und hier und da schienen es auch ganze Familien zu sein, mit Kindern und Hunden. Das Licht der Feuer machte ihre Gesichter weicher, und es wurde genausoviel geredet wie gegessen - so wie es auch in den Wohnungen der Menschen war, bevor das Fernsehen alles zum Verstummen brachte. Und die Düfte von Kohl und Hühnchen waren so intensiv, wie ich mich aus der Küche meiner Mutter an sie erinnerte.
    Wir kamen an einem halben Dutzend Männer vorbei, die ich schon zuvor gesehen hatte. Sie hockten dicht zusammengedrängt um einen improvisierten Campingtisch, auf dem ein spannendes Dominospiel stattfand. Hartnäckig nutzten sie auch noch die letzten Minuten des Tageslichts. Ganz in der Nähe beugte sich eine Frau über ein Rinnsal Wasser neben den Gleisen und rieb Kleidungsstücke zwischen glatten, nassen Steinen. Ich sah, daß ihr mehrere Finger fehlten, als hätte sie sie fortgerieben. Ein junger Mann mit einem Hammer arbeitete an einem Wetterschutz, den er sich in eine Felsnische gebaut hatte, und schlug Stützpfähle in die Erde. Und wo wir auch gingen, wanderten alte Seeleute auf den durch dieses friedliche Ende des Dschungels geschlagenen Pfaden, murmelten leise vor sich hin oder lachten laut oder redeten mit abwesenden Freunden längst vergangener Zeiten.
    Bevor ich ihn verließ, schüttelte ich Lionel die Hand und sagte: »Danke, Kumpel, es war sehr lehrreich.«
    »Tja, freut mich, das aus deinem Mund zu hören«, sagte Lionel. Er schaute sich schnell um und fügte hinzu: »Viel Glück.«
    Jeder Detective in New York sollte eine solche Ausbildung erhalten. Vielleicht sollte Lionel der Spitzel dem Lehrkörper der Police Academy beitreten, vielleicht sollte er eine feste Professur am John Jay College of Criminal Justice bekommen. Ihm zuzuhören war eine Übung darin, sich zu erinnern: Wenn nämlich ein Cop feststellt, daß es einem Fall an faßbaren Einzelheiten mangelt, sollte er sehr große Aufmerksamkeit auf die Auslassungen und die Motive und auf all die bruchstückhaften Rätsel richten - ja sogar auf die ungelösten Rätsel längst vergangener Zeiten, auf eine Vergangenheit, die sich durchaus mit der Gegenwart überschneiden konnte. Und war nicht alles von Anfang an so trüb und undeutlich gewesen?
    Tommy Neglio selbst war so zimperlich gewesen, was Details betraf, daß er so schnell wie möglich aus der Stadt verschwunden war, runter in die Sonne irgendeiner obskuren Insel ohne Telefon - bis der kleine Sturm, den er mir zugeschoben hatte, vorübergezogen war. Und war nicht

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