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Hell's Kitchen

Hell's Kitchen

Titel: Hell's Kitchen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Adcock
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Jede Nacht durchwühlt sie die Mülltonne, und was sie nicht sofort ißt, nimmt sie in ihren Plastiktüten zum späteren Verzehr mit.
    Jetzt saß sie auf einem Steigrohr an der West Forty-third Street, vor dem geschützten Ziegeleingang der IND-U-Bahn-Station. Ihre roten, aufgedunsenen Beine hatte sie vor sich ausgestreckt, und die Leute mußten auf dem Weg die Treppe hinunter zu den Bahnsteigen einen Schritt über sie machen. Schnee sammelte sich auf ihren Knöcheln und ihren nackten, geschwärzten Füßen.
    Heidis Beine waren mit Geschwüren übersät, weil sie immer sitzen muß, selbst bei den kürzesten, vorsichtigen Nickerchen. Eine Frau auf der Straße, selbst die übelriechendste alte Schachtel, schwebt ständig in der Gefahr, vergewaltigt zu werden, falls sie es wagt, sich hinzulegen. Also sitzt sie aufrecht, was aber die Blutzirkulation beeinträchtigt und zu Geschwüren führt. Nach und nach reißt die Haut auf, wunde Stellen sind dem Schmutz ausgesetzt; und schon bald wird das Bein so übel wie verfaulendes Fleisch, zu dem es tatsächlich auch geworden ist.
    Ich kenne Heidi nicht sehr gut. Sie mißtraut allen Männern, weil sie weiß, daß sie stärker sind. Ihr Gesicht sieht aus, als wäre es schon von zahllosen Männern übel malträtiert worden. Von den paar Malen, die wir uns unterhalten haben, weiß ich, daß sie, wie viele Bag Ladies, eine gewisse Schulbildung hat. Heidi besitzt einen abgewetzten Pelzmantel, den sie das ganze Jahr über trägt, und sie liest immer. Sie pickt sich ausschließlich die seriöseren Zeitungen heraus. Ich habe selbst schon gesehen, wie sie angewidert die Boulevardblätter wieder weggeschmissen hat, als sie in einem Papierkorb herumwühlte.
    Jetzt saß sie auf dem Steigrohr und las im Schnee die >Times <, wobei ihre krumme Nase lief. Auf der Titelseite stand der Artikel, daß unser Präsident in Nicaragua eine kommunistische Bedrohung sah, aber allem Anschein nach für obdachlose Frauen in Amerika keine Gefahr durch den bevorstehenden Winter.
    Ich ging in einen Deli, um Heidi einen Becher Kaffee mit Milch und Zucker zu besorgen. Nebenan im Spirituosengeschäft kaufte ich einen Flachmann Johnnie Walker Red für mich selbst. Ich hätte Heidi das gleiche spendiert, aber sie ist Abstinenzlerin.
    Dann überquerte ich die Forty-third Street. Ich blieb vor Heidi stehen, hielt ihr den Kaffeebecher hin und wartete mehrere Sekunden, bevor sie ihn nahm. Viele Menschen haben die Vorstellung, daß die Obdachlosen und Hilflosen vor Dankbarkeit sabbern sollten, wenn man ihnen etwas schenkt, als wären sie für kleine Almosen dazu verpflichtet. Zu gegebener Zeit schaute Heidi von ihrer Zeitung auf und nahm, was ich ihr mitgebracht hatte. So lief unsere Abmachung.
    Sie sah mich freundlich an, was ungewöhnlich war. Immer, wenn ich sie sonst getroffen oder versucht hatte, mit ihr zu reden, hatte sie wie eine zerlumpte Königin mit stummer Gelassenheit reagiert. Und dann tat sie etwas wirklich Bemerkenswertes. Sie hatte ein freundliches Wort für mich.
    »Es schneit«, sagte sie. »Ist das nicht nett?«
    »Ja.« Ich machte ihr den Becher auf, und der Dampf strömte hinaus. Sie nahm den Kaffee, trank allerdings nicht sofort. Statt dessen starrte sie mich an und lächelte. »Trink, bevor er kalt wird.«
    »Das werde ich. O ja, das werde ich. Aber, sag mal, hast du eine Sekunde gezögert, bevor du mir diesen Kaffee gekauft hast?«
    »Ich kaufe dir immer einen Kaffee, wenn ich dich sehe. Kaffee, mit Milch und Zucker.«
    »Ja, das stimmt. Gut. Man sollte gute Taten nie zögernd tun.«
    Ich sagte, daß ich in diesem Punkt völlig mit ihr einer Meinung sei und daß ich ihr mehr helfen könnte, wenn sie mir nur vertraute.
    Sie dachte darüber nach, schüttelte dann den Kopf. »Vergiß es. Ich komme schon zurecht. Es schneit. Ist das nicht nett?«
    Dann trank sie ungefähr die Hälfte des Kaffees, schaute wieder zu mir auf und lächelte, als wäre sie früher irgendwann einmal eine Dame gewesen, die viele alltägliche Freuden gewohnt war. Und dann sagte sie mit einer Stimme aus ihrer Vergangenheit: »Fröhliche Weihnachten.«

8

    Mary Rooney erwartete mich bereits, lauschte vor ihrer Tür auf das Geräusch meiner Schritte. Ich sah, wie sie oben auf dem Treppenabsatz im ersten Stock den Kopf über das Geländer beugte, als ich in der Eingangshalle in meinen Briefkasten sah. Ihr graues Haar war auf rosa und gelbe Lockenwickler gedreht, als ob sie vorhätte, an diesem Abend groß auszugehen. Aber soweit

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